Von der Muße

Bron: Flusser, Vilém, Kommunikologie weiter denken. Die “Bochumer Vorlesungen”, Frankfurt am Main 2009 (Fischer) p. 235-251

Von der Muße

Erinnern Sie sich an meine hypothetische Definition des Menschen als jenem, sagen wir, Wesen, welches erworbene Informationen speichert, prozessiert und weitergibt. Man kann die Schule als jenen Ort und jene Zeit – ich glaube, wir sind schon weit genug vorgedrungen in dieser unserer Überlegung, dass wir Raum und Zeit nicht mehr unterscheiden können -, als jene Raumzeit, oder als jenen Zeitraum betrachten, in dem erworbene Informationen gespeichert, prozessiert und weitergegeben werden. Drei mal drei Tage Vorlesung in Bochum sind zum Beispiel eine typische Raumschulzeit.

Schule, Sabbat, Tempel

Zuerst zur Etymologie, einer zwar nicht verlässlichen, aber guten Methode, den Worten nachzugehen: Schule heißt Muße, scholae. In der Antike ist das etwas außerordentlich Positives. Die Abwesenheit von Muße ist etwas Verächtliches, ascholia. Es fehlt ein deutsches Synonym, das englische lautet Business. To be busy ist das Gegenteil von to have leisure. Business als Gegenteil von Schule ist also etwas Verächtliches. Muße heißt lateinisch otium, das Antonym ist negotium. Woher kommt diese Hochschätzung der Muße, die uns als ex-neuzeitlichen Menschen so seltsam anmutet? Wir halten doch die Arbeit für die Quelle aller Werte.

Im Jüdischen gibt es das Wort Sabbat, und das heißt Samstag, wenn Sie wollen – eine schlechte Übersetzung, denn im Jüdischen sind nur zwei Begriffe heilig, nämlich der Begriff Gott und der Begriff Sabbat. Das Wort qadosch, dass im Hebräischen heilig heißt, wird nur mit dem Namen Gottes und mit dem Namen Sabbat verbunden. Die dahinterliegende Idee ist folgende: Es gibt zwei Zeiten, die laufende Zeit und die stehende Zeit. Der Zweck und das Ziel der laufenden ist die stehende Zeit. Die sechs Wochentage haben ihre Berechtigung nur, weil sie in den Sabbat münden.

[Kulturkritik III 2b04] Im Sabbat bleibt die Zeit stehen. Das ist halb magisch, halb historisch. Das Magische daran ist, dass in der Welt ein Loch ist, und das Loch nicht räumlich, sondern zeitlich ist, Sabbat. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, dass der Tempel in Jerusalem vergleichbar ist mit den Tempeln in den andern Religionen. Der Tempel Gottes, Tempel heißt ja ausgeschnitten, „temenos“, ist zeitlich. Es ist der Sabbat, dieses stehende Loch in der laufenden Zeit, in welchem wir aus dieser Welt in jene Welt, Olam haze, Olam Haba, (diese Welt, die kommende Welt) hinübergehen. Im Sabbat ist man unsterblich.

Es ist das Ewige, stehende Zeit. Für einen frommen Juden ist das ganze Leben ein Trachten nach dem Sabbat. Eines der ältesten Lieder der Menschheit, das später Jehuda ha-Levi zugeschrieben wurde, aber vielleicht bis ins sechste Jahrhundert vor Christus reicht, beginnt mit den Worten: “L’kha Dodi likrat Kalah, P’nej Shabath n’kab’lah.« “Komm, o Onkel””- es ist außerordentlich alt, denn Onkel ist ein matriarchalischer Begriff- “der Braut entgegen, das Antlitz des Sabbat wollen wir begrüßen”. Es gibt eine mystische Tradition in der Kabbala, die sagt, der Messias käme, wenn zwei Sabbate aufeinander fielen. Das könnte heißen, er kommt nie, denn das kann doch nicht passieren. Man kann das aber auch anders interpretieren: Der Messias selbst ist der Sabbat. Das Lebensziel, das Ziel der Geschichte, ist die Aufhebung der Geschichte und die Aufhebung des Lebens – Aufhebung beinahe im Hegel’schen Sinn dieses Wortes.

Die griechische Seite der Sache: Die griechische „politeia“ besteht aus drei Räumen oder Zeiten, dem „oike“, der „agora“ und dem „temenos“. Temenos heisst Ausschnitt, so wie templum. Es ist ein aus dem öffentlichen Raum herausgeschnittener Ausschnitt. Meistens liegt er auf einem Hügel, darum heißt er Akropolis. In diesem ausgeschnittenen Raum stehen die Ideen. Sie sind raumlos und zeitlos. Man kann ihrer gewahr werden, wenn man mit dem theoretischen Blick schaut. Die Akropolis schwebt über der Stadt, sie ist der Gott der Stadt. Deshalb ist es auch ein Irrtum, die Griechen Polytheisten zu nennen. Die Griechen hatten viele Weltaspekte, aber jeder Weltaspekt bedeutete die ganze Welt. Jeder Weltaspekt war ein Gott. Wenn ich zum Beispiel Athene sage, dann meine ich den Aspekt der Weisheit: Die ganze Welt erscheint unter dem atheniensischen Blick. Unter diesem Blick ist Athene die einzige Göttin. Wenn ich aphrodisiakisch schaue, dann ist die ganze Welt geschlechtliche Schönheit und Aphrodite die einzige Göttin. Unter einem dialektischen Blick ist der einzige Gott Ares. Da es hier um eine kommunikationstheoretische Unterhandlung geht, will ich auf den wichtigsten aller dieser Götter nicht verzichten: Wenn ich die Welt hermetisch sehe, als ein sich schließendes und doch wieder öffnendes Geheimnis, als einen Trick, eine Betrügerei, dann ist der einzige und meiner Meinung nach der bei weitem interessanteste aller Götter Hermes. Die Griechen sind keine Polytheisten, sondern multiple Monotheisten.

Scholae ist der Zustand, in dem man sich dem Heiligen öffnet. [Kulturkritik III 2b05] Ein bekannter mittelalterlicher Satz besagt: •Non vitae, sed scholae discimus .“Wir lernen nicht fürs Leben, sondern für die Schule.” Die Schule ist also das Ziel des Lebens, jüdisch in etwas anderer Stimmung als griechisch, aber im Grunde genommen herrscht in allen Kulturen, die mir bekannt sind, darüber Einigung. Erst die Neuzeit dreht das um in diesen wahnsinnigen Satz: »Non scholae, sed vitae vivimus“. „Wir leben nicht für die Schule, sondern für das Leben.“ Wir beginnen langsam darauf zu kommen, dass das verrückt ist, denn tatsächlich geht man immer mehr zur Schule. Die Schule nimmt schon vor der Kommunikationsrevolution, und noch deutlicher nachher, die Zentralstellung im Leben ein. Bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr geht man in den westlichen Ländern zur Schule oder geht die Schule zu einem. Die Schule ist ja nicht mehr ein Raum, in den man geht, sondern mindestens genauso eine Zeit, die zu einem herkommt. Wir leben, wie im alter, größtenteils in der Schule, mit dem Unterschied, dass im Mittelalter, die Schule eine Vorrangstellung innehatte. Die meisten Leute waren Sklaven, Frauen und Kinder, hatten also kein Recht auf Muße. Heute scheint die Schule mehr oder weniger allen zugänglich zu sein. Im Mittelalter hat man versucht, die Schule zu disziplinieren. Die Schule war, wie das ganze Leben im Mittelalter, eine Vorbereitung für die Reifeprüfung »Tod“, in der man dann entweder durchkam zum ewigen Heil oder durchfiel zur ewigen Verdammung. [Kulturkritik III 3a01] Es gab auch Schulen zur Vorbereitung für den Dienst am Herrn. Die Unterscheidung fällt nicht leicht. Man wurde, wenn man die Schule bestand Doktor.

Ich möchte die Doktorprüfung schildern: Der Lehrer saß auf seinem Lehrstuhl. Zu seinen Füßen saßen die Doktoranden. Er stellte – das hieß Rigorosum – starke, scharfe, peinliche Fragen. Peinlich, weil man zum Beispiel Zangen dabei verwendete, und den Leuten sogar manchmal Finger abzwickte, weil man Feuer unter ihnen anzündete und wartete, ob sie dabei weglaufen oder sich das gefallen lassen. Die Fragen waren die Inquisition. Der Doktorand thematisierte die Fragen. War die Thematisierung richtig, dann wurde er Doktor. Sagte er aber ein Anathema, etwas Falsches, dann stand der Lehrer vom Stuhl auf und rief das entsetzliche Wort anathema dixit, er hat ein Anathema gesagt. Dann wurde dieser Doktorand – ich hoffe, Sie spüren an unseren Universitäten letzte Reste davon, es ist nicht so sehr lang her – dem weltlichen Arm übergeben und im Zentrum des Glaubens, also in Spanien, Südfrankreich und Italien, in einem Akt des Glaubens, Autodafe, verbrannt.

Allen diesen Doktoren, die irgendwo feste Lehrstühle hatten, zum Beispiel an der Sorbonne, in Padua oder in Colonia Agrippina, zu denen reiste man, um zu ihren Füßen zu sitzen und zu hören. Die Bindung zwischen dem Lehrer und den Schülern, zwischen dem Doktor und den Scholasten, war die stärkste Bindung, die es im Leben gab, stärker als zwischen Mann und Frau. Man war dem Doktor ergeben, und der Doktor war für einen verantwortlich. Bevor der Doktor sagte: “Anathema dixit!«, muss es in ihm einen schrecklichen inneren Kampf gegeben haben, bevor er einen seiner Schüler verbrennen ließ, nicht aus Bosheit, sondern um seine Seele zu retten.

Philosophie

Das Problem war: Wie komm’ ich zu Gott? Eine der Methoden, zu Gott zu kommen, war durch Philosophie. Die Philosophie ist die Dienerin der Theologie, ancilla theologiae, und zwar deshalb, weil ihr die Philosophie erlaubt, Logik zu treiben. Logik ist die Methode vom Besondern zum Allgemeinen aufzusteigen, in fünf Stufen. Die unterste Stufe ist das Besondere, zum Beispiel dieser Tisch. Die nächste Stufe ist eine Verallgemeinerung. Stuhl und Tisch sind beide Möbel, das Wesentliche, die identitas, die prima essentia, ist Möbel. [Kulturkritik III 3a02] Wenn ich Begriffe induziere, dann werden sie immer weiter und immer leerer. In der vierten Essenz sind sie schon riesig und beinahe leer. Schließlich komme ich zur fünften Essenz, zur Quintessenz. Essenz heißt ja auch Parfum. Es verdünnt sich immer mehr. Die fünfte Essenz ist völlig leer und allumfassend- die Gottheit.

Ich komme also per Logik zur Gottheit. Durch Vergleichen schreite ich zur Gottheit. Diese Philosophie heißt realistisch. Sie meint, dass die Universalen, diese Sammelnamen, Wirklichkeiten sind: “Universalia sunt realia.”

Es gibt die umgekehrte Meinung, die sagt, dass ich so nicht zu Gott komme. Wenn ich diesen Tisch mit diesem Stuhl vergleiche und sage, dass beides Möbel sind, dann habe ich nur der Sache einen Namen gegeben. Möbel ist gar kein richtiger Begriff, es ist nur ein Name: ,, Universalia sunt nomina « – daher der Begriff Nominalisten. Die nominalistischen  Mönche, in deren Nachkommenschaft die Wissenschaft steht, sagen: Du spielst das Spiel des Teufels, wenn Du mit der Logik zu Gott willst. Du kannst nur durch den reinen Glauben zu Gott kommen: »Sola fide.” Jede intellektuelle Beschäftigung ist des Teufels. Wenn ich diese logische Operation mache, kann ich sie doch auch in den Erscheinungen machen. Ich kann zum Beispiel aus Blei die verschiedenen Essenzen herausarbeiten. Vom schnöden Blei komme ich zu reinem Gold. Aus dem reinen Gold komme ich zum Stein der Weisen. Aus dem Stein der Weisen komme ich zum Jungbrunnen, und dann komme ich technisch zu Gott. Das nennt man Alchemie. Das sind die Wurzeln unserer Zivilisation. In jedem wissenschaftlichen Experiment steckt das drin.

Universität und Schulpflicht

Einige Worte zur neuzeitlichen Universität: Einer der wichtigsten Aspekte der Revolution der Bürger ist, dass die Schule aus den Klöstern in die Städte übertragen wird. Politik und Theorie wechseln den Platz. Anstatt dass die Politik der Schule diente, dient jetzt die Schule der Politik. Die Schule ist nicht mehr Ziel, sie wird Mittel: Mittel zur Technik, Mittel zur Kunst, Mittel zur Politik. Der Umbau der Universität aus den Klöstern in die Stadt, also das Unterwerfen der Doktoren unter die Bürger, hat eine Umstrukturierung der Schule zur Folge. Die bürgerliche Universität beruht auf einer seltsamen positivistischen Sicht auf die Natur oder auf die Welt. Der Autor dieser Sicht heißt Gott. Die Sicht ist ungefähr folgende: Die ausgedehnte Sache wird von einer Wissenschaft untersucht, sagen wir, von der Physik. Aber an manchen Stellen wird diese physikalische Forschung außerordentlich kompliziert. Es gibt Unterabteilungen von der Physik, also Mechanik, Dynamik, vielleicht Astronomie- ein anderer Fall, aber seitNewtongehört dieser Bereich in die Physik. Dann kommt vielleicht Chemie dazu. Die Sache wird unangenehm, immer komplizierter, sodass es besser ist, [Kulturkritik m 3a03] eine neue Ebene anzunehmen und darauf aufzubauen, nennen wir sie Biologie. Die zunehmende Komplexität geht weiter vorwärts. Irgendwann kommt eine ganz weiche Disziplin, die aber das Ziel der Universität ist, die Soziologie. Die Bürgerssöhne bauen auf dem Gebiet der Physik Maschinen. Auf dem Gebiet der Biologie betreuen sie Menschen und Tiere. Auf dem Gebiet der Psychologie sind sie Ingenieure des Geistes und der Seele. Auf dem Gebiet der Soziologie sind sie Ingenieure der Gesellschaft -lauter Ingenieure. Für die sogenannten formalen Disziplinen Logik und Mathematik ist im Positivismus eigentlich kein Platz. Sie laufen quer. Unter der Universität werden dann mit der Zeit zwei weitere Stufen von Schulen eingebaut, zuerst die nachträglich sogenannten Mittelschulen. Das sind Schulen- ich habe immer Frankreich vor Augen, weil Frankreich um diese Zeit das maßgebende Land ist-, in denen die Söhne darin unterrichtet werden, Maschinen in Ordnung zu halten. Frauen existieren nicht sie sind noch immer so etwas wie Gefäße der Sünde. An diesen Mittelschulen werden die Grundlagen der Physik unterrichtet, die nötig sind, um die Maschinen zu erhalten, die Grundlagen der Chemie, denn manche Maschinen laufen doch chemisch, sehr wenig Biologie, sehr wenig. Dafür wird Geschichte unterrichtet, weil das  Geschichtsbewusstsein in die Leute eindringen muss. Sie müssen an den Fortschritt glauben und sich am Fortschritt engagieren. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, ich glaube, seit Napoleon, wird auch die Volksschule eingeführt.

Die Volksschule dient dazu, die Söhne der Ex-Bauern, also die Proletarier, kompetent zu machen, um in Funktion der Maschinen zu funktionieren. Dazu ist es notwendig, dass sie die Gebrauchsanweisungen lesen können, dass sie die nötigen kurzen Rechnungen durchführen können und dass sie jene Verhaltensmodelle erlernen, die nötig sind, um Befehle auszuführen. Das ist die sogenannte allgemeine Schulpflicht – ein ausgezeichnetes Wort. Sie sehen, wie jetzt die Schule die schlimmste Degradation erfahren hat, die man sich nur vorstellen kann. In die Schule zu gehen, wird jetzt eine Pflicht. Muße wird etwas Böses.

Arbeitslosigkeit und Interface

Jetzt bahnt sich ein Umbruch an. Die Muße beginnt ein Zentralproblem zu werden. Die Schule wird problematisch. Man weiß nicht mehr so recht, was man in der Schule machen soll. Die meiste Zeit der Muße wird aufgeteilt in solche Dinge wie Feierabend, Weekend, Ferien oder Pension, und ausgefüllt mit solchen Sachen wie Skilaufen und Ibiza. Das ist natürlich keine hervorragende Schule. Die Leute wissen nichts mit der Schule anzufangen.

Die zweite Nachricht ist: Der Positivismus funktioniert nicht mehr. Es ist genauso gut möglich, statt der Physik zum Beispiel die Biologie oder die Psychologie oder die Soziologie oder irgendetwas anderes nach unten zu stellen und die Hierarchie ab irgendeinem ontologischen Niveau aufzubauen. Das Interessante an diesen Schichten ist nicht ihre Trennung, sondern dass sie ineinander greifen. Interessant ist nicht, die Biologie von der Physik zu trennen, sondern im Gegenteil, die Gebiete, wo sich die beiden überschneiden, zu untersuchen. Infolgedessen kommt man, bevor man zur sogenannten Cross-Education kommt, oder zu dem sogenannten Interface, oder wie immer diese modernen oder postmodernen Ausdrücke lauten, darauf, sich diese Überdeckungen von Gebieten zu überlegen. Man kommt darauf, dass es eigentlich nur zwei Typen von Überdeckungen gibt. [Kulturkritik III 3a04] Zum Beispiel Physik mit der Biologie: Beim Overlap entsteht eine graue Zone. Es gibt Teile der Physik, die kann man als Physik ansehen, und Teile der Biologie, die kann man als Biologie ansehen. Aber der größte Teil der Kompetenz der Biologie ist invadiert von der Kompetenz der Physik, und der größte Teil der Kompetenz der Physik ist invadiert von der Kompetenz der Biologie. Das Gebiet, wo sie sich gegenseitig invadieren, heißt graue Zone. Es gibt eine ganze Reihe von Phänomenen, die scheinbar in die Kompetenz der Physik fallen, aber besser von einem biologischen Standpunkt untersucht werden können und umgekehrt. Ein noch interessanteres Verhältnis zwischen Gebieten nennt man Fuzzy sets, struppige Mengen. Kurz und gut, als ob die Spezialisierung aufgehoben wäre. Sie bleibt obwohl sie natürlich anders strukturiert ist, als bei Comte. Es hat also gar keinen Sinn, wenn jemand heute eine Kompetenz in der Biologie erwerben will, dass er auf Psychologie oder auf Physik verzichtet. Infolgedessen reicht es nicht mehr aus, nur in die Schule zu gehen, sondern es muss immer zu einer Kreuzung von Kompetenzen kommen.

Hinzu kommt, dass diese beiden formalen Disziplinen, Logik und Mathematik, mit denen Comte sich auseinandersetzen musste, weitere Probleme machen: zum Beispiel Informatik, zum Beispiel Theorie der Entscheidung, Theorie der Spiele, unzählige solcher Disziplinen, die formal sind, laufen quer durch alle diese thematischen Gebiete. Das Gebäude der Universität ist zersprengt. Sie ist nur noch ein leeres Gehäuse, und innerhalb dieses Gehäuses funktioniert nichts mehr. Wenn es gegenwärtig noch eine Rechtsfakultät gibt und eine der Biologie und eine Fakultät der Künste, so sind das nur noch Kadaver; das kann nicht mehr leben, denn das Gebäude der Universität spiegelt doch das Gebäude der Wissenschaft wider. Das Gebäude der Wissenschaft ist nicht mehr erteilbar. Das Seltsame ist, dass dabei die Spezialisierungen nicht aufgehoben sind, sondern dass zahlreiche Kompetenzen zusammenkommen müssen.

Ich möchte diese beiden Stränge der Muße zusammenbringen: einerseits diese degradierte, heruntergekommene Muße derer, die nicht wissen, was mit sich anzufangen, also die Touristen und die Zuschauer von Television, und andererseits  diese Leute, die für die Schule zu leben scheinen, und die darin völlig verloren sind, weil die alten Kategorien nicht mehr greifen. Zu dieser Situation ist hinzuzufügen, erstens: die Inflation an Informationen, begleitet vom Entstehen neuer Apparate, und zweitens: die Kurzlebigkeit der Informationen, dann sehen Sie ungefähr die Situation der Schule. Es wird immer deutlicher, dass die Arbeit nicht die Quelle der Werte ist, sondern die Information.

Es wird immer deutlicher, dass Werte schafft, wer Informationen schafft, und dass Informationen-in-die-Welt-Drücken eine des Menschen unwürdige Geste ist. Also wird deutlicher, immer deutlicher, dass die Schule der Zweck des Lebens ist. Die Muße, die Schule, leisure, loisir, Arbeitslosigkeit, ich weiß nicht, wie Sie das nennen. Die Arbeitslosen sind, obwohl auf total vertrottelte Art, die Boten der Zukunft. [Kulturkritik III 3a05]

Man kann die vernetzte telematische Gesellschaft als eine permanente Schule ansehen, ein um es jüdisch zu sagen, sich über die Welt wölbender Sabbat. In dieser vernetzten Gesellschaft geht es ja darum, Kompetenzen, Spielkompetenzen, zur Deckung zu bringen, sei es durch das Erzeugen grauer Zonen, sei es durch das Erzeugen von Fuzzy sets. Man kann sagen, dass die telematische Gesellschaft unter dem Zeichen steht, die Arbeit abzuschaffen, abzuschieben, wie im klassischen oder im jüdischen Dorf, die Schule als Sinngebung des Lebens wieder einzuführen und in dieser Schule nicht mehr Hierarchien von Kompetenzen, sondern “Überkreuzungen von Kompetenzen zu erreichen. Es gibt keine noblen und weniger noblen Kompetenzen. Die Physik ist nicht grundlegender als die Psychologie, die  Kompetenz im Pfeifen nicht minderwertiger als die Kompetenz im Kalkulieren.

Die Vernetzung hat den Zweck, die uneingestandene Absicht, diese Kompetenzen zu mobilisieren, in die Vernetzung einzubeziehen und zu kreativer Kontemplation zu bringen.

Zur Nachsilbe »-matik«

[Kulturkritik III 3b01] Es ist an der Zeit, das Wort homo sapiens durch das Wort homo faber zu ersetzen und zu sagen, homo faber ist der Schritt zum homo ludens. Der Fabrikant ist der Embryo des Spielers. Das Nachwort »-matik” meint den Glauben, dass kein Mensch mehr versklavt werden soll; dass alle Versklavung, alle Macht, alle Politik auf Maschinen abgeschoben werden kann; dass es die Würde des Menschen ist, Maschinen zu politisieren, damit man sich selbst entpolitisiert; dass Maschinen Steuern zahlen sollen; dass Maschinen Kriege führen sollen; dass Maschinen, was immer Sie Politik nennen wollen, machen sollen, und wir sollen uns darum nicht kümmern. Leider Gottes schließt das Wort Automatisation das Wort Autonomie ein. Autonomie heißt „Von selbst einen Platz finden”. Ein Automat hat die Tendenz, autonom zu werden. Es sieht schon aus, als ob wir die Zügel aus der Hand verlieren würden. Er rast von selber weiter, durch Trägheit. Wir leben doch in einer motivlosen Welt. Wir erklären doch nichts mehr durch Motive. Wir glauben doch nicht, dass eine Bewegung ein Motiv braucht. Wir glauben doch, dass eine Bewegung träge ist. Wenn wir eine Maschine in Bewegung setzen, also der Motor der Maschine sind, und sie läuft dann träge weiter, kann es passieren, dass wir die Zügel verlieren. Das ist das Thema aller antitechnisch engagierten Denker. Ich habe nichts dagegen, wenn die Maschinen autonom werden, denn die Maschinen sind doch Sklaven. Sollen sie nur ruhig so schnell arbeiten wie sie können. Das geht uns doch nichts an. Wir brauchen sie gar nicht an den Zügeln zu haben. Es interessiert uns doch nicht. Die Leute, die sich mit den Maschinen einlassen, die Funktionäre, sind eigentlich keine Menschen. Man muss sie nur so schnell wie möglich aus ihrem Funktionieren herausziehen und sie wieder lebendig machen. [Kulturkritik III 3b02]

Nehmen wir an, hinter einem Schalter, an dem Pässe ausgestellt werden, sitzt nicht ein Robot, sondern ein Mensch. Seine Funktion ist es, aufgrund von Papieren einen Pass auszustellen.  Davon hängt sein Leben ab. Das ist sein Leben, er manipuliert Symbole. Er ist ein Software-Mensch. Er schaut nie aus diesem Loch heraus. Er ist immer innerhalb dieser Symbole. Er hat kein Leben, sondern eine Karriere, das heißt, je nachdem wie er die Symbole manipuliert, steigt er auf und bekommt ein höheres Gehalt. Aus der Manipulation der Symbole wird er periodisch herausgespieen, entweder vor die Television oder nach Ibiza, um dann wieder zurückzukommen und Symbole zu manipulieren, bis er pensioniert wird. In der Pension manipuliert er andere Symbole. Dann stirbt er, leider nicht nur symbolisch. jetzt bekommt dieser Pseudo-Mensch, dieser Unter-Mensch, dieser Funktionär, dieser öffentliche Angestellte oder diese Autorität, die Papiere. Er macht den Pass. Er gibt auf den Pass die Fotografie und füllt ihn aus. Alles ist in bester Ordnung. Er hat dazu beigetragen, dass er in die Ferien gehen kann. Jetzt gibt er Ihnen den Pass und muss doch noch aus diesem Schlitz rausschauen. Was vergleicht er? Er vergleicht die Fotografie mit dem, was da draußen ist. Das heißt nicht etwa, dass der Pass ein Symbol des Menschen ist, sondern umgekehrt, der Mensch ist ein Symbol des Passes. Der Pass ist die ungekürzte konkrete Wirklichkeit, um es mit Hegel zu sagen. Der Pass ist das, was wirklich ist. Das, was draußen steht, der Mensch, das ist ein Symbol, möglicherweise ein sehr schlechtes Symbol. Es kann ja passieren, dass der Mensch dieser Fotografie nicht ähnlich ist. Dieser Mensch ist, um es mit Baudrillard zu sagen, ein schlechtes Simulakrum von dem Original, das der Funktionär in der Hand hält.

Ich will nicht weiter auf diese Gefahren eingehen. Ich möchte aber die Dringlichkeit aufzeigen. Da fünfundsiebzig Prozent der gegenwärtigen Menschheit funktioniert, statt zu leben; da fünfundsiebzig Prozent der sogenannten entwickelten Welt Karriere macht, anstatt Informationen zu erwerben, funktioniert. Statt in die Schule zu gehen, ist es außerordentlich dringlich zu versuchen, die telematische Gesellschaft einzurichten, um diese Pseudo-Menschen wieder in ihre menschliche Würde zu heben, falls sie dazu noch fähig sind. Sie wollen natürlich nicht. Ich wiederhole, die Masse will das nicht. Die Masse will funktionieren. Diese Leute haben doch weiße Krägen. Sie kommen doch nur mit Symbolen zusammen. Sie berühren doch nichts als Symbole, Geld, Papier oder Televisionsbilder.

Zur Vorsilbe »tele-«

Die telematische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der alles automatisiert ist, -was automatisiert werden kann, und alles andere »tele-« ist. “Tele-“, kommt von Ziel, „telos“. Das Ziel ist die Ferne und das Näherbringen der Ferne. Das erste Tele-Zeug war das Teleskop. Die Übersetzung von Teleskop ins Deutsche heißt Fern-sehen. Galilei hat mit diesem optischen Rohr gesehen, dass der Jupiter vier Monde hat. Ich kann gar nicht schildern, was dieses Televisionsprogramm für Folgen hatte. Damit stellte sich nämlich heraus, dass im Himmel dieselben Schweinereien vor sich gehen wie auf der Erde. [Kulturkritik III 3b03J Wer kann da noch sagen: »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf der Erde”, wo es doch im Himmel so schrecklich zugeht? Das Malheur ist ja nicht nur, dass die Erde ein Himmelskörper wurde, dass also alle Hoffnungen auf das Himmelreich aufgegeben werden müssen, weil es ja schon besteht, sondern das Malheur ist, dass sich herausgestellt hat, dass überall die gleiche Schweinerei herrscht, die gleiche Ungerechtigkeit, um es mit Aristoteles zu sagen. Es ist doch völlig ungerecht, dass sich um den Jupiter Monde drehen oder dass auf dem Mond Berge sind. Das hat das Teleskop ersichtlich gemacht. Das ist die erste Vorahnung dessen, was Telematik bedeutet: Ferne ganz nah bringen.

Man kann das umdrehen: Wenn man aus dem Teleskop ein Mikroskop macht, dann sieht man das winzig kleine; es wird einem nahe gebracht. Die Welt des Kleinen und die Welt des Großen greifen schon lange vor Einstein und Planck ineinander, sodass wir sie nicht trennen können. Das Unheimliche des Großen und das Unheimliche des Kleinen werden durch die Tele-Präsenz in unsere Nähe gebracht. Alle übrigen Instrumente, die mit “Tele-” beginnen, haben einen ähnlichen Charakter, zum Beispiel das Telefon, die Television, der 89 Dritte Bitte aus dem »Vaterunser”, Matthäus-Evangelium (Mt 6,9-13) und Lukas-Evangelium (Lk 1I,2ff.). Telegraph, das Telefax, das Minitel. Was ganz nah gebracht wird, sind nicht mehr nur Objekte, sondern auch Subjekte. Wir sind einander nahe gerückt, hautnah. Wir sind nur dann gleichzeitig mit andern überall, wenn wir mit ihnen mit spezifischen Kabeln verbunden sind. Ich bin nur gleichzeitig mit meinem Sohn in Sao Paulo, wenn ich ihn anrufe oder er mich anruft. Der Bürgerkrieg in Serbien ist nur dann hier, wenn ich irgendwelche telematischen Kabel zwischen mich und diesen Bürgerkrieg schalte. Das ist das Wesen des Netzes. Es sind die Fäden, die das Netz bilden. Wir können gar nicht mehr anders, als eine vernetzte Weltanschauung zu haben. Wir sind Knoten eines Netzes. Was man früher Gesellschaft genannt hat, ist doch nur eine Verdinglichung, eine Reifikation eines intersubjektiven Netzes. Was man ein Individuum genannt hat, ist doch nichts als eine Reifikation eines Knotens in einem Netz. Es gibt die Fäden des Netzes, in das wir geworfen wurden, und wir haben die seltsame Möglichkeit, selbst Fäden zu machen. Ich bin nicht verantwortlich dafür, dass ich ein Sohn bin, aber ich bin verantwortlich dafür, dass ich eine Frau und einen Sohn habe. Ich bin nicht verantwortlich für die Nazis, aber ich bin verantwortlich für die Bindungen, die ich eingegangen bin. Ich kann eine Verantwortung nur dann haben, wenn andererseits die Verantwortung entgegnet wird. Laut den Rabbinern ist ein Jude ein Mensch, der nur Verantwortung übernimmt für etwas, das seinerseits Verantwortung für ihn annimmt. Wenn ich aber Verantwortung annehme für etwas, was sich mir gegenüber nicht verantwortlich benimmt, bin ich Heide. [Kulturkritik III 3b04]

»Tele-« heißt nahe bringen. Es ist keine geographische oder geschichtliche Frage, nicht im Raum oder in der Zeit sind Sie nahe gebracht, sondern irgendwie außerhalb der Zeit und außerhalb des Raums. Das ist utopisch und „uchronisch”. Wir sind in einer Vernetzung. Das ist nicht nur sentimental, es hat auch mit Kompetenz zu tun. Die Verantwortung hat nur einen Sinn, wenn sie zu irgendeiner Überschneidung von Kompetenzen führt, nur dann kann sie Sinn gebend sein. Pascal hat gesagt: «Le cœur  a ses raisons, que la raison ignore.« Ich möchte das umdrehen und sagen: La raison a son coeur, que le coeur ignore, die Vernunft hat ein Herz, von dem das Herz keine Ahnung hat. Es ist in der Vernunft eine Sentimentalität, nämlich die Sentimentalität der Verantwortlichkeit. Diese Kommunikation, dieses überdecken von Kompetenzen, dieses Spiel, in dem ich da engagiert bin, um frei zu sein, um Möglichkeiten vorzugreifen und sie zu vergegenwärtigen, dieses Spiel ist ja nicht irgendwo angehakt, nicht in einem Apparat und nicht in einem Draht und nicht in einem “ich”, sondern die Ich-Kapsel platzt. Ich bin “ich” nur in Funktion von “Du”, und du bist .. Du” nur in Funktion von “ich”. Das Telefongespräch ist doch nicht ein Gespräch zwischen zweien, sondern im Gegenteil, es ist das Gespräch da, und aus diesem Gespräch können “Du” und “ich” extrapoliert werden. Wir hängen sozusagen an dem Gespräch. Wir sind nur gedachte Anhängsel, aber die ungekürzte Wirklichkeit, um wieder mit Hege! zu sprechen, ist das Gespräch  selbst, die reine Intentionalität selbst. Das Spiel ist die Wirklichkeit, nicht die Elemente und die Regeln, sondern das Spielen. Nicht das, was man will oder tut, ist Freiheit, sondern Verantwortung ist Freiheit.

Pathos

[Kulturkritik III 4a01] “Pathein“ ist ein seltsames Wort. Es heißt schwingen, aber auch leiden. Das lateinische Äquivalent von Pathos ist passio. Das Leiden Jesu am Kreuz ist die Passion Christi. Es gibt eine Art von Mathematik und Musik, die sympathisch ist: Alles schwingt mit. Man nennt das orphisch, lyrisch. Bei der antipathischen Mathematik und Musik schwingt alles dagegen, alles läuft weg. Es ist, sagen wir, die panische Seite, falls Sie Pan und Orpheus einander gegenübersetzen, obwohl die Grundlage dieselbe ist. Mit dem Herzen gehen heißt Konkordanz, gegen das Herz gehen Diskordanz. Das Netz schwingt, es ist ein Pathos, es ist eine Resonanz. Das ist die Grundlage der Telematik, diese Sympathie und Antipathie der Nähe. Ich glaube, die Telematik ist die Technik der Nächstenliebe, eine Technik zum Ausführen des Judenchristentums. Die Telematik hat Empathie als Basis. Sie vernichtet den Humanismus zugunsten des Altruismus. Allein dass diese Möglichkeit besteht, ist schon etwas ganz Kolossales.

Ist der telematische Mensch ein Anfang einer Anthropologie, die sagt, Mensch sein ist ein telematisches Verknüpft Sein mit andern, ein gegenseitiges Anerkennen zwecks Abenteuer der Kreativität? [Kulturkritik III 4a02] Es gibt Bindungen, die so stark sind, und die gegenseitige Verantwortung ist so groß, dass sie das Zentrum des Wissens bilden.  Wenn diese Bindung zerbricht, ist es ärger als der eigene Tod.

[Kulturkritik III 4a03] Treue ist die Methode, der Welt ein Aroma, einen spezifischen Duft zu geben. {Kulturkritik III 4a05] Das ist das Bild, das ich habe: Wenn ich mit meinem Freund in Sao Paulo telematisch kommuniziere, dann verbiegt sich nicht nur der Raum, und er kommt zu mir und ich zu ihm, sondern es verbiegt sich auch die Zeit, die Vergangenheit wird Zukunft, die Zukunft wird Vergangenheit, und beides wird gegenwärtig. Das ist mein Erleben der Intersubjektivität.