Hermetik

Das hermetische Prinzip


Wortaufschüttung, vulkanisch meerüberrauscht

Oben
der flutende Mob
der Gegengeschöpfe: er
flaggte – Abbild und Nachbild
kreuzen eitel zeithin.
 
Bis du den Wortmond hinaus-
schleuderst, von dem her
das Wunder Ebbe geschieht
und der herz-förmige Krater
nackt für die Anfänge zeugt,
die Königs-
geburten. 

Paul Celan

Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß dieses Gedicht von Paul Celan in seiner Schriftgestalt ein Gesamtbild von Pyramide und Gegenpyramide zeigt, wie der „blinde Schwimmer“ von Max Ernst. Aber erstaunlich wird die Analogie erst, wenn man berücksichtigt, daß auch im Gedicht die obere Pyramide der augenlosen Verstehenswelt („Er sieht nicht“) und die untere Pyramide der hermetisch-dunklen Gegenwelt gewidmet ist („Er sieht“).
Dem Gedicht liegt vermutlich eine astronomische Theorie zugrunde, nach der sich der Mond durch eine Eruption aus der noch glutflüssigen Erde gebildet hat. Gewaltige Mengen noch unerkalteter Materie müssen, so nimmt man an, in urweltlichen Zeiten von der rotierenden Erde abgerissen worden sein und sich durch Eigenrotation zum runden Ball gebildet haben. Die Erde konnte die ungeheure Wunde (den „Krater“) nicht mehr ganz schließen, sie behielt eine gewaltige Senke zurück, die der Anfang des Urmeeres ist und die sich uns heute als das Becken des Pazifischen Ozeans darstellt, der seine außerordentlichen Tiefen aus dieser Mondgeburt hat; aber er deckt sie mit den trüben Wassern des Weltmeeres zu, das alle Höhen und Tiefen ausgleicht und jedes geprägte Wort durch ein diffuses Rauschen übertönt.
Dieses physikalische Theorie verbindet sich mit einer Grunderfahrung des Dichters, die auf das „Wunder Ebbe“ geht. Wer eine der seltenen Dichterlesungen Paul Celans miterlebt hat, weiß was gemeint ist. Der Dichter beginnt mit einer „Wortaufschüttung“, mit einem den Zuhörern unbekannten und unbegreiflichen Wort, das dennoch, man weiß nicht woher, Gewicht hat. Ein „Wortmond“. Unbekannt, unerforscht, unbetreten. Aus einer vulkanischen Schöpfung geboren, unmittelbar dem glutflüssigen Innern entstammend; herzförmig, nicht hirnförmig, nicht pyramidal, aus einem unbegreiflichen Ursprung, aus den „Anfängen“, eine „Königsgeburt“.
Für den Dichter ist das Gedicht ein einziges Wort, „vulkanisch“, hinausgeschleudert. Ein solches Wort genügt, eine große Zuhörerschaft zu atemlosen Schweigen zu bringen. Das „Wunder Ebbe“ geschieht. Der „Mob der Gegengeschöpfe“ versiegt, das endlose Gerede mit abgegriffenen Wörtern und fixierten Bedeutungen. Alles, was wir miteinander sprechen und was in Zeitung und Rundfunk ertönt, setzt sich aus heruntergekommenen Wörtern zusammen, von denen jedes einmal eine Königsgeburt war. Jetzt aber ist es nur noch ein Ab- und Nachbild, das im Grunde bedeutungslos und nichtig („eitel“) ist.
Das Bedeutungsschwere ist immer so, daß es im Umkreis der Alltagswelt unverständlich bleibt. Der Wortmond leuchtet, aber er legt nichts an den Tag. Er ist das Gestirn der Nacht, das Licht der Unverständlichkeit. Wenn wir unter „Hermetik“ das Unverständliche verstehen, so ist „Wortaufschüttung“ ein Gedicht der Hermetik. Seine Aussage, selbst hermetisch, geht auf das Hermetische. Alle Kunst ist hermetisch, oder sie nicht Kunst. Der hermetische Dichter „versteht nicht“, „il voit“.

Uit: H. Rombach: Welt und Gegenwelt- Umdenken über die Wirklichkeit: Die philosophische Hermetik, Basel 1983 (Herder)

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Hymnen an die Nacht

Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen? Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. – Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf – beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in diesem irdischen Tagewerk. Nur die Toren verkennen dich und wissen von keinem Schlafe, als dem Schatten, den du in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst. Sie fühlen dich nicht in der goldnen Flut der Trauben – in des Mandelbaums Wunderöl und dem braunen Safte des Mohns. Sie wissen nicht, daß du es bist, der des zarten Mädchens Busen umschwebt und zum Himmel den Schoß macht – ahnden nicht, daß aus alten Geschichten du himmelöffnend entgegentrittst und den Schlüssel trägst zu den Wohnungen der Seligen, unendlicher Geheimnisse schweigender Bote. 

Aus: Novalis, Hymnen an die Nacht, 1800 

Mehr als zwei Jahrtausende lang war die europäische Geistesgeschichte von der Idee des Lichtes, der Wahrheit und der Ordnung beherrscht. Alles Streben gipfelte im Zielpunkt der höchsten Klarheit, der letzten Bestimmtheit, des absoluten Guten und der vollständigen Offenbarung aller Wesensverhalte. Wie immer im einzelnen, die Weltgeschichte wurde unter einem Gesetz vorgestellt, nach dem zuletzt alles „an den Tag“ kommen muß.
Mit der europäischen Geistesströmung, die wir „Romantik“ nennen, kam jedoch ein Gegenzug zu Wort, der nicht auf den Tag, sondern auf die Nacht geht. Ein Ausschnitt aus den „Hymnen an die Nacht“ des Novalis zeigt uns, daß die Nacht Sinngrund und Symbol einer Gruppe von Phänomenen ist, die man bisher vergessen oder falsch verstanden hat. Bei näherem Zusehen entdecken sich diese gerade als die wichtigsten, die umfassenden und die ursprünglichsten Ereignisse, die in einen unerklärten und unerklärbaren Zusammenhang gehören, Liebe, Leben, Tod und Geburt.
Alle zentralen, nicht weiter hintergehbaren Phänomene des Lebens und des Daseins sind hermetischer Natur. Sie liegen dem Begreifen voraus, oder sie lassen alles Verständnis hinter sich. Oder das Aufgehen des Verständnisses ist der Untergang des Phänomens. In diesen Untergang geht auch das Wissen ein, daß die Welt des Ursprungs die eigentliche Welt ist, die wahre und die ganze Welt. Dagegen ist die Welt des Verstehens nur ein abkünftiger Zusammenhang aufgeblähter und um ihre Tiefendimension gebrachter Phänomene.

uit: H. Rombach: Welt und Gegenwelt- Umdenken über die Wirklichkeit: Die philosophische Hermetik, Basel 1983 (Herder)

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Herz der Nacht.

Unterbrochene Nacht,

fast zu schön, mit zuviel Schwärze

vermischt und zu scharfen Lichtern;

Wunder an Besitznahme und Abwesenheit,

Nacht ganz aus herrlichen Abständen; 

kein Augenblick, der nicht alles oder nichts wäre.

Im Innersten der Nacht, im Herzen der Nacht. 

Das Erwachen des Geistes klar entgegengesetzt der Substanz der Nacht:

Bemerkenswert allein, abgehoben, ausgeruht. 

Von der Nacht geschieden, ihre Kräfte klar scheidend! 

Dann erleuchten ihn die Finsternisse. 

Das Schweigen spricht zu ihm ganz nah. 

Der Körper dann, gewichtslos in der Stille,

Der sich bis zu den Finger- und Fußspitzen fühlt;

Und die Sprache ganz gegenwärtig,

Das Gedächtnis ganz gegenwärtig,

Alle Bewegungen und Operationen des Geistes

Spürbar und sichtbar;

Die Idole wohlgeordnet

Auf allen Stufen, in jeder Ordnung und Klasse oder Kategorie

Die Erkenntnis selbst erleben, und keine Gegenstände…

Uit: Valery, Paul, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Französischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 2018, (Suhrkamp), pag. 52

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Sterben

Das Sterben als Ereignis: hinübergehen, enden, abschliessen. Einerseits ist mein Sterben von morgen auf derselben Seite wie mein bereits-tot-sein von morgen. Auf Seiten der vollendeten Zukunft. Der Todgeweihte ist ein solcher nur für denjenigen, der seinem Ringen mit dem Tod, seiner Agonie beiwohnt, ihm in seinem Ringen beisteht -ich werde an späterer Stelle darauf zurückkommen. Wenn ich mich selbst als einen dieser Todgeweihten denke, so stelle ich mich als den Todgeweihten vor, der ich für diejenigen sein werde, die meinem Sterben beiwohnen werden. In jedem Falle ist der Unterschied zwischen diesen beiden imaginären Situationen enorm. Dem Tod beiwohnen ist präziser, treffender als nur zu überleben. Das Beiwohnen ist eine punktuelle, ereignishafte Prüfung. Überleben dagegen ist ein langer Weg, im besten Falle derjenige der Trauer, d. h. man akzeptiert die Trennung vom Verstorbenen, der sich entfernt, sich vom Lebenden löst, damit dieser überlebt. Aber letztendlich liegt auch darin noch für mich eine verinnerlichte Antizipation, die erschreckendste, nämlich die des Todgeweihten, der ich für diejenigen sein werde, die meinem Tod beiwohnen werden, die ihm beistehen. Also gut! ich behaupte, es ist diese Antizipation der Agonie, die den konkreten Kern der »Angst vor dem Tod« bildet, in der ganzen Verwirrung ihrer Bedeutungen, die ineinander übergehen. 

Bron: Paul Ricoeur, Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass. Vivant jusqu’à la mort, Französisch-Deutsch, Hamburg 2011, (Felix Meiner Verlag), pag. 15

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An Franziska Nietzsche

                                                 [Pforta, wohl 2. Mai 1863]

Liebe Mamma. Dein lieber Brief mit den Brustkaramellen kam mir sehr angenehm, da ich manches wieder von Euch hörte was mich ja auch sehr interessierte. Um zuvörderst nun von meinem Unwohlsein Bericht zu erstatten, so ist die Heiserkeit immer noch da und zwar unvermindert; ich trinke seit gestern Selterwasser mit Milch und das scheint die Kehle ein wenig zu erleichtern. Es wird mir allmählich grauenhaft auf der Krankenstube, besonders da heute Wetter und Himmel lustig aussehn. Obwohl ich hier arbeite, will es doch nicht viel werden, da mir immer ein oder das andre Buch fehlt. Ich mache mir Auszüge aus Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrh., überhaupt treibe ich viel Literaturgeschichte.

    Was meine Zukunft betrifft, so sind es eben diese ganz praktischen Bedenken, die mich beunruhigen. Von selbst kommt die Entscheidung nicht, was ich studieren soll. Ich muß also selbst darüber nachdenken und wählen; und diese Wahl ist es, die mir Schwierigkeiten macht. Gewiß ist es mein Bestreben, das, was ich studiere ganz zu studieren, aber um so schwieriger wird die Wahl, da man das Fach heraussuchen muß, worin man etwas Ganzes zu leisten hoffen kann. Und wie trügerisch sind oft diese Hoffnungen! Wie leicht läßt man sich von einer momentanen Vorliebe oder einem alten Familienherkommen oder von besonderen Wünschen fortreißen, so daß die Wahl des Berufes ein Lottospiel erscheint, in dem sehr viele Nieten und sehr wenig Treffer sind. Nun bin ich noch in der besonders unangenehmen Lage, wirklich eine ganze Anzahl von auf die verschiedensten Fächer zerstreuten Interessen zu haben, deren allseitige Befriedigung mich zu einem gelehrten Manne, aber schwerlich zu einem Berufstier machen würde. Daß ich also einige Interessen abstreifen muß, ist mir klar. Daß ich einige neue hinzugewinnen muß, ebenfalls. Aber welche sollen nun so unglücklich sein, daß ich sie über Bord werfe, vielleicht gerade meine Lieblingskinder!

    Ich kann mich nicht deutlicher aussprechen, die kritische Lage ist einleuchtend, und übers Jahr muß ich mich entschieden haben. Von selbst kommt es nicht, und ich selbst kenne die Fächer zu wenig.

    Genug. – Ich habe eigentlich nichts weiter zu schreiben, als daß ich sehr bedauere, das Brautpaar nicht in Pforta gesehn zu haben.

    Grüße Lisbeth und Onkel recht sehr von mir!

    Lebt recht wohl allesamt!

                                                                            Fritz

Bron: Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Friedrich Nietzsche: Werke, (vgl. Nietzsche-W Bd. 3,) (c) C. Hanser Verlag]


An Carl von Gersdoff

                                                               Leipzig, Mittwoch

                                                                [16. Januar 1867]

Mein lieber Freund, es war ebenfalls in den ersten Tagen des Januars, wo auch ich in Naumburg an einem Sterbebette stand, an dem einer nahen VerwandtenA11, die nächst Mutter und Schwester die nächsten Anrechte auf meine Liebe und Verehrung hatte, die treulich an meinem Lebenswege Anteil genommen hatte, und mit der ein ganzes Stück meiner Vergangenheit und vornehmlich meiner Kindheit von uns gewichen ist. Und doch, als ich Deinen Brief empfing, mein lieber, armer, schwergetroffner Freund, ergriff mich ein viel heftigerer Schmerz: war doch auch der Unterschied der beiden Sterbefälle so groß. Dort war ein Leben vollbracht, mit guten Handlungen ausgenützt, mit schwachem Körper bis zum Alter getragen: wir hatten alle die Empfindung, daß die Kräfte des Körpers und Geistes verzehrt waren und daß der Tod nur für unsre Liebe zu früh komme. Aber was schied mit Deinem auch von mir stets bewunderten und verehrten Bruder.

    Es schied von uns eine jener seltnen, edlen Römernaturen, auf die Rom in seiner besten Zeit stolz gewesen wäre, auf die Du als Bruder noch viel mehr Anrecht hast stolz zu sein. Denn wie selten bringt unsre erbärmliche Zeit solche Heldengestalten hervor. Aber Du weißt es ja, wie die Alten darüber denken: »Der Götter Lieblinge sterben früh.«

    Was hätte eine solche Kraft noch tun können. Wie hätte sie als Vorbild eines selbsteignen, rühmlichen Strebens, als Beispiel eines entschiedenen, in sich klaren, um Welt und Weltmeinung unbekümmerten Charakters Tausenden in des Lebens Wirren Stärkung und Trost sein können. Wohl weiß ich, daß dieser vir bonus im schönsten Sinne Dir noch mehr war, daß er Dein anzustrebendes Ideal, wie Du mir oft früher sagtest, Dein sicherer Leitstern für die wechselvollen und durchaus nicht bequemen Bahnen des Lebens war. Vielleicht war dieser Tod der größte Schmerz, der Dich überhaupt treffen konnte.

    Nun, lieber Freund, Du hast jetzt – das merke ich an dem Tone Deines Briefes – selbst an Dir erfahren, warum unser Schopenhauer das Leiden und die Trübsale als ein herrliches Geschick, als den dei teros plous zur Verneinung des Willens preist. Du hast auch die läuternde, innerlich beruhigende und festigende Kraft des Schmerzes erfahren und empfunden. Es ist eine Zeit, in der Du selbst erproben kannst, was wahr ist an der Lehre Schopenhauers. Wenn das vierte Buch seines Hauptwerkes jetzt auf Dich einen häßlichen, trüben, lästigen Eindruck macht, wenn es  nicht die Kraft hat, Dich zu erheben und Dich aus dem äußeren heftigen Schmerze hindurchzuführen zu jener wehmütigen, aber glücklichen Stimmung, die uns auch beim Anhören edler Musik ergreift, zu jener Stimmung, in der man die irdischen Hüllen von sich abfallen sieht: dann mag auch ich nichts mehr mit dieser Philosophie zu tun haben. Der Schmerzerfüllte kann und darf allein über solche Dinge ein entscheidendes Wort sagen: wir anderen mitten im Strome der Dinge und des Lebens stehend, jene Verneinung des Willens nur ersehnend als ein glückseliges Eiland, wir können es nicht beurteilen, ob der Trost solcher Philosophie auch für die Zeiten tiefer Trauer ausreicht.

    Es wird mir schwer, auf etwas anderes überzugehen: denn ich weiß nicht, ob Dich nicht Erzählungen über mein Geschick und Ergehen in dieser Stimmung verdrießen. Doch wird Dir lieb sein zu hören, daß Einsiedel und ich infolge gemeinsamen Schmerzes jetzt öfter zusammengekommen sind und auf Mittel und Wege sinnen, wie wir Dir eine kleine Freude und Erholung verschaffen können. Überhaupt hast Du an Einsiedel einen sehr teilnehmenden und mitfühlenden Freund; soeben habe ich ihm Deinen schönen, ausführlichen und mit herzlichster Liebe geschriebenen Brief vorgelesen. Wir wünschen beide nichts sehnlicher als Dich einmal sehen und sprechen zu können.

    Mir geht es wohl. Die Arbeit ist groß, aber fruchtbringend, darum erfreuend. Ich schätze ein stetiges und konzentriertes Arbeiten von Tag zu Tage mehr. Augenblicklich versuche ich meine Kräfte an einer Preisaufgabe der hiesigen Universität »De fontibus Diogenis Laertii«; ich habe dabei die wohltuende Empfindung, nicht erst durch Anlockung von Ehre und Geld auf dies Thema gekommen zu sein, sondern es mir selbst gestellt zu haben. Das wußte Ritschl und war so gefällig, nachher dies Thema als Preisaufgabe vorzuschlagen. Ich habe einige Mitstreiter, wenn ich recht berichtet bin: doch habe ich in diesem Falle nicht geringes Selbstvertrauen, da ich bis jetzt lauter sehr schöne Resultate gefunden habe. Schließlich kommt es allein auf Förderung der Wissenschaft an: sollte ein anderer noch mehr gefunden haben, so soll mich dies nicht sehr kränken.

    Von Deussen habe ich im neuen Jahre Nachricht: er ist wieder Philolog, bravo: und empfindet, wie er selbst schreibt, wieder festen Boden unter sich. Er studiert in Bonn und scheint allmählich in das Fahrwasser zu kommen. Er schickte mir seine Übersetzung eines französischen Buches »Theodor Parkers Biographie« mit, mit der er sich Geld verdient hat.

    Zum Schluß, lieber Freund, bitte ich Dich um eins: belästige Dich nicht mit Briefschreiben. In kurzer Zeit bekommst Du von mir wieder Nachricht in einem recht ausführlichen Briefe, den heute zu schreiben mir nicht möglich ist. Dasselbe läßt Dir auch Einsiedel sagen.

    Ich schließe mit einem warmen Lebewohl und einem Spruch des Aristoteles:

    ti gar estin anthrôpos; astheneias hypodeigma,

    kairoi laphyron, tychês paignion, metaptôseôs

    eikôn, phthonou kai symphoras plastinx.

Dein treuer, gleichfalls tief getroffener Freund

                                                     Friedrich Nietzsche

Bron: Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Friedrich Nietzsche: Werke, (vgl. Nietzsche-W Bd. 3, S. 929 ff.) (c) C. Hanser Verlag

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“Ueber allen Gipfeln ist Ruh’


Goethe:

“Ueber allen Gipfeln

Ist Ruh’,

In allen Wipfeln

Spürest Du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur! Balde

Ruhest du auch.”


Miharukasu yama no itakadi

Auf den weit entfernten Gipfeln, die ich überblicke.

kozue ni wa

kaze mo ugokazu

tori mo nakazu

An den Wipfeln weht kein Wind, auch die Vögelein schweigen

mate shibashi

yagate nanji mo yasurawan

(Goethe’s Werke. Bd. 1. Stuttgart und Tübingen, S. 99)


Nicht nur die Deutschen, sondern auch alle Goethe-Liebhaber in der ganzen Welt kennen dieses Gedicht. Goethe (1749-1831) hat es wahrscheinlich am 6. September 1780 auf das Fensterbrett in einer Jagdhütte auf dem 861 m hohen Berg Kickelhahn mit Bleistift geschrieben. Da er damals Minister im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war und der Berg nicht allzu weit von seinem Wohnort entfernt lag, ist er einige Male auf diesen Berg gestiegen. Mit dem Abstand von ein paar Jahrzehnten stieg er am 27. August 1831 wieder auf den Berg. Das war am Tag vor seinem einundachtzigsten Geburtstag. Er fand das von ihm selbst auf das Fensterbrett geschriebene Gedicht wieder. Der Berginspektor Johann Heinrich Christian Mahr, der ihn begleitete, schrieb, dass Tränen über die Wangen Goethes flossen. Nachdem Goethe sich die Tränen mit dem Taschentuch getrocknet hatte, sprach er in sanftem, wehmütigem Ton: >Ja: warte nur, balde ruhest du auch!< Dann schwieg er eine Weile. Der Text von Johann Heinrich Christian Mahr trägt den Titel Goethes letzter Aufenthalt in Ilmenau und erschien ursprünglich im Weimarer Sonntagsblatt Nr. 29 vom 15. Juli 1855. Heute kann er im Internet gefunden werden. (p. 98)


Heidegger behandelte in seiner Vorlesung von 1935 »Einführung in die Metaphysik« dieses Gedicht Goethes. Er bewegte sich auch in dieser Vorlesung im Umkreis seiner Grundfrage nach dem Sinn von »Sein« (»ist«), wozu er im Gedicht Goethes einen Ansatzpunkt fand. 

Man bedenke, dass das Faktum des »Seins« von etwas, bzw. dass dieses »ist« oder »war«, eine jedem bekannte und insofern banale Sache ist. Aber sobald man nach dem Sinn dieses Bekannten und Banalen fragt, wird man verlegen, da man dieses »Ist/War«, somit die »Zeit« und das »Sein«, nicht vor sich stellen kann wie einen Gegenstand. »Sein« und »Zeit« kann man weder analytisch noch objektiv betrachten. Die Frage nach solchen unbestimmten Sachen sollte, so mag man meinen, den Menschen überlassen werden, die Musse haben, während man sich genug mit den Anliegen des eigenen Alltagslebens beschäftigen muss. Aber sobald man bemerkt, dass gerade dieses Alltagsleben endlich ist und mit dem Tod zunichte geht, sieht man, dass dieses Alltagsleben gar nicht so selbstverständlich, sondern eher in seinem Sinn und seiner Bedeutung äusserst frag-würdig ist. Die Frage nach dem »Sein« und der »Zeit« ergibt sich doch als dasjenige Anliegen, das unter Umständen das grösste von allen ist. Man sieht weiterhin, dass diese Frage zur »ersten Philosophie« im Abendland wurde und sich in Form der »Ontologie« entwickelte. 

So veröffentlichte Heidegger 1927 »Sein und Zeit«, die Schrift die als das grösste Ereignis in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts angesehen werden kann. Aber die Seinsfrage wurde in dieser Schrift nicht »beantwortet«. Sie blieb für Heidegger als die Frage bestehen, die ihn im Denken weiter bewegte. Ein Wegweiser auf diesen Denkweg ist die Vorlesung von 1935 »Einführung in die Metaphysik«. Heidegger spricht in dieser Vorlesung sinngemäss wie folgt: Das »ist« lässt sich in verschiedenen Wendungen gebrauchen und ersetzen bzw. umschreiben. Wir sagen: »Gott ist«, d. h., Gott ist wirklich gegenwärtig; »die Erde ist«, d. h., die Erde ist ständig vorhanden; »der Vortrag ist im Hörsaal«, d. h., der Vortrag findet dort statt; »der Bauer ist auf dem Feld«, d. h., der Bauer hält sich dort auf; »der Becher ist aus Silber«, d. h., er besteht aus Silber; »der Hund ist im Garten«, d.h., er treibt sich dort herum. Wie steht es nun um den Ausdruck »Über allen Gipfeln / Ist Ruh’«?

Heidegger bemerkt, dass dieses »ist« im letzten Beispiel sich gar nicht umschreiben lässt. Wenn man versuchsweise eine Umschreibung wagt: »Über allen Gipfeln / herrscht Ruh«, so wird man gestehen müssen, dass die Ruhe, die »herrscht«, keine Ruhe mehr ist, die über allen Gipfeln »ist«. Er sagt: » In diesem >ist< eröffnet sich uns das Sein in einer vielfältigen Weise«. 

Der hier zitierte Vers »Über allen Gipfeln / Ist Ruh’« wird von Nishida so übersetzt, dass eine Rückübersetzung ins Deutsch lauten kann: »Auf den weit entfernten Gipfeln, die ich überblicke.« (Miharukasu yama no itadaki) Man sieht gleich, dass der für Heidegger entscheidende Ausdruck »ist Ruh« einfach ausgelassen wird. 

Allerdings liefs Nishida nicht einfach das genannte Wort weg. Die von ihm übersetzten weiteren Verse lauten, um diese wiederum in einer Rückübersetzung wiederzugeben: »An den Wipfeln weht kein Wind, auch die Vögelein schweigen« (kozue ni wa / kaze mo ugokazu / tori mo nakazu). In dieser Übersetzung spürt man, dass die » Ruhe« konkret und real vorhanden ist. Wenn vorher eine erklärende Beschreibung wie »Die Ruhe ist« kommt, verliert das übersetzte Gedicht an innerer Spannung. 

Der entscheidende Unterschied zwischen dem originalen und dem übersetzten Gedicht beginnt eigentlich schon mit dem ersten Vers in der Übersetzung Nishidas. Der Vers lautet, um ihn wiederum in der Rückübersetzung wiederzugeben: »Auf den weit entfernten Gipfeln, die ich überblicke.« Der Dichter steht auf dem Gipfel von Kickelhahn und überblickt die Gipfel der Berge in weiter Ferne, so wie es sicherlich auch Goethe selbst getan hat. Das Gefühl der wirklichen Anwesenheit des Dichters auf dem Berg Kickelhahn wird dann mit dem Ausdruck Nishidas »ich überblicke« unmittelbar gegeben. Der Dichter spurt dort rein körperlich, dass “kein Wind weht und die Vögelein schweigen”. In der Übersetzung Nishidas handelt es sich nicht um die objektive Beschreibung eines Dritten, sondern um die Äusserung des wirklich dort in der Ruhe auf dem Berggipfel Stehenden, um den Ausdruck seines Körpergefühls. Man könnte sagen, es handele sich um die »reine Erfahrung« im Sinne Nishidas, die diesseits jeglicher Spaltung in Subjekt und Objekt liegt. 

Soll man aber sagen, dass Goethe ein spannungsloses Gedicht machte, indem er das Beschreibungswort »Ist Ruh’« einschob? Keineswegs. Wenn im Gedicht Goethes dieses Wort ausgelassen würde, bestünde kein Reim mehr. Das » Ist Ruh’ « und das Ende des vierten Verses »Spürest du« reimen sich, ebenso wie die danach folgenden Verse. Dementsprechend entfaltet sich der Anblick der weit entfernten Berge in die stille »Ruhe«, wodurch diese Ruhe sich sammelt. Das Gedicht Goethes ist ein perfektes Sprachwerk wie ein Kleinod. 

Das, woraufhin das Gedicht konzentriert wird, »Ist Ruh’«, ist für Heidegger das Wort, mit dem das »Sein« in einzigartiger Weise ausgesprochen wird. Dieses Wort für das »Sein« wurde in der Übersetzung Nishidas weggelassen. Heidegger redete immer wieder von der »Seinsvergessenheit«, die als die Grundtendenz der abendländischen Metaphysik das Geschick des Abendlandes bildet. Sollte man dann sagen, dass Nishida eben in diese Seinsvergessenheit geraten ist? 

Es mag für diese Frage vorläufig genügen, nur darauf hinzuweisen, dass es bei Nishida um das »Nichts« der Ruhe geht, wie es in der Situation zum Ausdruck kommt: »Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde.« Das »Nichts« der Ruhe ist der Ort, an dem das Sein von Himmel und Erde erschlossen wird. Dieses »Nichts« gilt bei Nishida als das Ursprünglichere des »Seins«. 

Das Nichts ist für Nishida die Wahrheit des Seins, die in der »reinen Erfahrung« der »Ruhe« bewahrheitet wird. Diese Ruhe wird darin als real gegenwärtig empfunden, so dass: »An den Wipfeln [ … ] kein Wind [weht], auch die Vögelein schweigen« (kozue ni wa / kaze mo ugokazu I tori mo nakazu). Der hier erwähnte »Wind« entspricht dem im Gedicht Goethes besagten »Hauch«, der auch Atem und Pneuma impliziert. Im Gedicht Goethes wird dieses Wort offensichtlich nicht nur wegen der Reimung, sondern auch wegen der Ahnung des »Todes« gebraucht und bereitet die letzten Verse »Warte nur, balde/ Ruhest du auch« vor. Nishida teilt diese Ahnung. 

Die Verbindung der Nichts-Auffassung Nishidas mit seiner Auffassung der Dichtung Goethes lässt sich auch im Essay des späten Nishida »Der Hintergrund Goethes« feststellen. Dort bezeichnete Nishida den Hintergrund des Gedichtes von Goethe als »das Formlose«. Das van Nishida gemeinte Formlose ist z.B. die Höhe, die nicht als solche an sich zu finden ist, obwohl ein Berg faktisch hoch ist. Auch die Tiefe ist an sich nirgends, obwohl das Tal in der Tat tief ist. Auch die Ferne und Nähe sind je das Formlose, das nirgendwo an sich ist, aber dennoch redet man davon, dass das Ausland fern und die Heimat nah ist. Wenn dieses Formlose, das die Formen hervorbringt, als die Seinsform des eigenen Herzens verinnerlicht und zu eigen gemacht wird, so kann vom ichlosen Ich oder vom subjektlosen Subjekt die Rede sein. 

Fand Heidegger im Gedicht Goethes den Ausdruck für das von ihm gedachte »Sein«, so sah Nishida in demselben Gedicht einen Ausdruck für das »Nichts«, das als das Formlose die Formen hervorbringt. Am Gedicht Goethes, das in den Grabstein Kukis eingraviert wurde, überschneiden sich die Denkwege des deutschen und des japanischen Denkers. (pag. 100-103)

Bron: Ryōsuke Ohashi, Der Philosophenweg in Kyōyo. Eine Entdeckungsreise durch die japanische Ästhetik, München 2019, (Verlag Karl Alber Freiburg / München, p. 98; 100-103


Beuys Brancusi collage