Nietzsche: Gedichten en autobiografische fragmenten

Friedrich Nietzsche – Autobiografisches…

Den 11. August 1859

– Auch heute hat die Sonne noch nicht die Nebel- und Wolkenhüllen durchbrochen; es ist heute Studientag oder nach dem alten Gebrauche, eine Stunde länger schlafen zu können. Ausschlafetag. Da sind nun von morgens um sieben Uhr Repetierstunden bis zwölf, von zwei bis fünf wiederum und von fünf bis sieben schulgartenfrei. Solche Tage eignen sich vorzüglich zu längeren Privatarbeiten. Die Lesestunden fallen übrigens immer aus. –

    – Es ist eigentümlich, wie rege die Phantasie im Traume ist; ich, der ich immer des Nachts Bänder von Gummi um die Füße trage, träumte, daß zwei Schlangen sich um meine Beine schlängelten, sofort greife ich der einen an den Kopf, wache auf und fühle, daß ich ein Strumpfband in der Hand habe. –Ich habe gestern ein kleines Gedicht gemacht, indem ich durch Gedanken an die Heimat daran dachte, wie es wohl einem sein möge, der keine Heimat habe. – Es folgt hier:


                           Ohne Heimat! – –

             Flüchtge Rosse tragen

             Mich ohn Furcht und Zagen

             Durch die weite Fern.

             Und wer mich sieht, der kennt mich

             Und wer mich kennt, der nennt mich:

             Den heimatslosen Herrn.

             Heidideldi!

             Verlaß mich nie!

             Mein Glück, du heller Stern!


             Niemand darf es wagen,

             Mich danach zu fragen,

             Wo mein Heimat sei:

             Ich bin wohl nie gebunden

             An Raum und flüchtge Stunden,

             Bin wie der Aar so frei!

             Heidideldi!

             Verlaß mich nie!

             Mein Glück, du holder Mai!


             Daß ich einst soll sterben,

             Küssen muß den herben

             Tod, das glaub ich kaum:

             Zum Grabe soll ich sinken

                  Und nimmermehr dann trinken

                  Des Lebens duftgen Schaum?

                  Heidideldi!

                  Verlaß mich nie!

                  Mein Glück, du bunter Traum!


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                  I. Das milde Abendläuten

                     Hallet über das Feld.

                     Das will mir recht bedeuten,

                     Daß doch auf dieser Welt

                     Heimat und Heimatglück

                     Wohl keiner je gefunden:

                     Der Erde kaum entwunden,

                     Kehrn wir zur Erde zurück. –


                 II. Wenn so die Glocken hallen,

                     Geht es mir durch den Sinn,

                     Daß wir noch alle wallen

                     Zur ewgen Heimat hin.

                     Selig wer allezeit

                     Der Erde sich entringet

                     Und Heimatlieder singet

                     Von jener Seligkeit!


**

                                  Heimkehr

            Das war ein Tag der Schmerzen,

            Als ich einst Abschied nahm;

            Noch bänger war’s dem Herzen,

            Als ich nun wiederkam.

            Der ganzen Wandrung Hoffen

            Vernichtet mit einem Schlag!


            O unglückselge Stunde!

            O unheilvoller Tag!

            Ich habe viel geweinet

            Auf meines Vaters Grab

            Und manche bittre Träne

            Fiel auf die Gruft herab.


            Mir ward so öd und traurig

            Im teuren Vaterhaus,

            So daß ich oft bin gangen

            Zum düstern Wald hinaus. –

            In seinen Schattenräumen

            Vergaß ich allen Schmerz


            Es kam in stillen Träumen

            Der Friede in mein Herz.

            Der Jugend Blütenwonne

            Rosen und Lerchenschlag

            Erschien mir wenn ich schlummernd

            Im Schatten der Eichen lag.

**


I. Aus den Hundstagsferien

Hundstage! Das ist ein Zauberwort für jeden nach Freiheit schmachtenden Alumnus portensis, ein Eldorado, das uns getrost den großen Ozean des Schulsemesters durchsegeln läßt. Welche Wonne, wenn endlich der Ruf: Land, Land, erschallt: jubelnd bekränzen alle das Schiff ihres Daseins und die alten trauten Stuben umschlingen Girlanden, die auf jedem Blatt den Namen: Hoffnung tragen. Wer vermöchte es nur zu schildern, das überwallende Gefühl, das stolze Bewußtsein, das uns zu den Sternen erhebt. Nicht mit Seufzen und Klagen entreißen wir uns den Armen der Alma mater; nein, uns ist im Gegenteil so frei und lustig zumute, wie einer Lerche, die zu dem Flammenmeer aufsteigt und in die wogende Purpurglut ihre Flügel taucht. Aber ist das eine Freiheit? Nur fünf Wochen können wir unsre Schwingen über Berg und Tal, in ewige Weiten erheben, aber dann ruft uns ein Machtwort in die alten, düsteren Mauern zurück. –

    Wenn der lächelnde Frühling sein überreiches Füllhorn über die Fluren ausschüttet, wenn die Sonne die Erde feuriger umarmt, da keimen und sprießen die Lenzeskinder empor, schütteln das goldene diamantenbesäte Haupt in der Morgenglut und erschließen sich, wonneschauernd, freudig verklärt. Und siehe! Schwarze Nacht steigt empör und umhüllt die seufzende Erde mit düsterem Gewölbe. Gewaltige Stürme, hindröhnende Donner gleiten an den finsteren Wänden nieder und mühen sich die Pfosten zu sprengen. Feurige Blitze schlängeln sich um die Säulen des Gewölbes und züngeln empor – da tritt Helios auf den purpurnen Thron und – die finstern Mächte weichen – die Lichtgöttin schreitet mit farbigem Erglühen über die diamantenbetaute Brücke und über ihr schließt sich das mit Blitzen behangene Triumphtor, – aber die holden Frühlingskinder sind hingesunken in den gewaltigen Anblick und auf den zerstreuten Blüten wandelt der siegende Gott. – Darum, o Jüngling, benutze die Zeit deiner Ferien, nicht mit Arbeiten, sondern in jauchzender Erholung, so daß, wenn das Ungewittcr herannaht und die dröhnende Donnerstimme das Ende der Rosenzeit verkündet, du willig scheidest – doch stille! – Ich bin nicht einer, der ohne Klagen den Frühling fliehen sieht und ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand gern wieder sich in Fesseln schließt. Ich bin aber zu dem Satz gekommen: Genieße das Leben, wie es sich dir darbietet, und denke nicht an die kommenden Mühen. Das ist jedenfalls der größte menschliche Grundsatz, den ich in Pforta gelernt habe. Wenn mich bittre Gedanken quälten und die Seele von schmerzlichem Heimweh umwunden wurde, wenn ich traurig den Frühling scheiden sah, und mein Herz im tiefsten Weh schmachtete, da schlang sich jener Gedanke wie eine Rosengirlande durch die Trümmer der Vergangenheit, und – ich – schob Kegel! – Darum weg ihr Ferienabschiedsgedanken! Lustig, voll von Lebenslust, stürz dich in das matte Leben und erkämpfe dir die Krone der besten Ferienbenutzung!

1859


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Sage mir, teurer Freund, warum du so lang nicht geschrieben?

    Immer hab ich geharrt, Tage und Stunden gezählt.

Denn ein gar süßer Trost ist ein Brief vom Freunde entsendet,

    So wie ein sprudelnder Quell durstige Wandrer erquickt.

Viel auch ist mir wert die Kunde von deinem Befinden:

    Habe auch ich doch einst ähnliche Wege gewallt,

Habe so Freud’ wie Leid mit dir zusammen genossen,

    Und in Freundesverein wurde das Schwerste uns leicht.

Freilich weiß ich recht wohl: Schuljahre sind schwierige Jahre,

    Nie wird jegliche Last, Mühe und Arbeit gescheut.

Oft auch möchte die Seele sich los von den hemmenden Fesseln

    Reißen, in Einsamkeit flüchten das fühlende Herz;

Aber auch diesen Druck erleichtert die treuliche Freundschaft,

    Die sich stets voll Trost, voll von Erhebung uns naht.

Unter Freunden ist nichts, was der eine dem andern verbürge;

    Alles teilen sie sich mit im vertrauten Gespräch.

Ist auch der eine entfernt, die Liebe durchsegelt die Lüfte,

    Und in Gestalt eines Briefs naht sie dem einsamen Freund.

Teurer! Bald nahet der Tag wo auch wir uns wieder erblicken,

    Und des trauten Gesprächs lang schon entbehrten uns freun.

Aber nur kurz ist die Freud’! Denn bald enteil’ ich von neuem,

    Nicht nach Pforta zurück, wo nur die Strenge regiert,

Nicht nach dem Fichtelgebirg dem düsteren, nein, in die Heimat!

    Ach wohl zum letztenmal grüß ich den teuersten Ort!

Doch – die Entfernung hemmt nicht der Seelen stete Verbindung,

    Et manet ad finem longa tenaxque fides!

                                                 Pforta, den 6. 3. 1860


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Mein Lebenslauf [I]*[Aus dem Jahre 1861]

Die verflossene Zeit des Lebens zu überschauen, und Gedanken an die wichtigsten Ereignisse desselben anzuknüpfen, kann und darf niemandem uninteressant sein, dem seine eigne Sitten- und Geistesentwicklung am Herzen liegt. Denn wenn auch die Keime zu den geistigen und sittlichen Anlagen schon in uns verborgen liegen und der Grundcharakter jedem Menschen gleichsam angeboren ist, so pflegen doch erst die äußern einwirkenden Verhältnisse, die in bunter Mannigfaltigkeit den Menschen bald tiefer, bald flüchtiger berühren, ihn so zu gestalten, wie er als Mann sowohl in sittlicher als geistiger Beziehung auftritt. Günstige Lebensverhältnisse können deshalb, ebenso wie unglückliche, sich sowohl nützlich als schädlich zeigen, je nachdem die verschiedenen Keime zu bösen und guten Neigungen dadurch geweckt werden. Wie oft doch preisen die Menschen die Reichen, Berühmten, überhaupt vom Glück Begünstigten glücklich und wie oft verwünschen nicht gerade jene ihre Lebensstellung, die sie in Laster und Gemütsunruhe gestürzt habe und Neigungen, die ihre Lebensfreude aufzehren, in ihnen erweckt habe. Wofern diese Anschuldigung des Schicksals gerecht ist, wofern überhaupt alle die ihm gemachten Vorwürfe billig sind, so muß diese austeilende Macht entweder blind oder das Prinzip der Ungerechtigkeit sein. Es ist aber ebenso undenkbar, die höchsten Interessen des Menschengeschlechts in die Hände eines gedanken- und unterscheidungslosen Wesens zu legen, als einem urbösen Etwas anzuvertrauen. Denn ein abstraktes, ungeistiges Schöpferisches kann ebensowenig wie ein urböses Wesen unsre Geschicke leiten, da im ersten Fall das Geistlose nicht existieren kann – denn alles, was ist, lebt – im zweiten Fall der dem Menschen angestammte Trieb zum Guten unerklärbar wäre. Es gibt in allem Geschaffnen Stufenleitern, die sich auch auf unsichtbare Wesen erstrecken müssen, wenn nicht die Welt selbst die Urseele sein soll. So bemerken wir einen Fortschritt des Lebens, ausgehend vom Stein, überhaupt dem scheinbar Festen, Starren, fortschreitend zu Pflanzen, Tieren, Menschen und auslaufend in Erde, Luft, Himmelskörper, Welt oder Raum, Stoff und Zeit. Soll hier die Grenze und das Ende sein? Sollen abstrakte Begriffe die Schöpfer alles Seins sein? Nein, über das Stoffliche, Räumliche, Zeitliche hinaus ragen die Urquellen des Lebens, sie müssen höher und geistiger sein, die Lebensfähigkeit unendlich, die Schöpferkraft unbegrenzt sein.

    Eine andre Stufenleiter bildet die anwachsende Verteilung der Geisteskräfte, und hier steht von allen sichtbaren der Mensch an der Spitze, da er die größte Geistesausdehnbarkeit hat. Aber die Unvollkommenheit und Beschränktheit des menschlichen Geistes, der die Welt klar durchdringen müßte, wenn er der Urgeist sein sollte, leitet unsre Blicke auf eine höhere, erhabenere Geisteskraft, von der alle andern Geisteskräfte wie von einer Urquelle her fließen. So lassen sich noch viele solche Stufenleitern finden, wie der anwachsende Fortschritt des Stofflichen, Räumlichen, Zeitlichen, der Moral usw. Alle aber – und das ist das Wichtige – bestimmen uns erstens die Existenz des ewigen Wesens, dann auch die Eigenschaften desselben. Nur auf einem guten Wesen und zwar auf einem Prinzip des Guten kann die Austeilung der Geschicke ruhen und wir müssen nicht verwegen den Schleier zu heben wagen, der über der Leitung unsrer Verhältnisse gebreitet ist. Wie vermöchte auch der Mensch mit seinen so gering ausgebreiteten Anlagen des Geistes die erhabenen Pläne zu durchdringen, die der Urgeist aussann und ausführt! Es gibt keinen Zufall; alles was geschieht, hat Bedeutung, und je mehr die Wissenschaft forscht und sucht, desto einleuchtender wird der Gedanke, daß alles, was ist oder geschieht, ein Glied einer verborgenen Kette sei. Wirf deinen Blick auf die Geschichte; glaubst du, daß bedeutungslos die Zahlen sich aneinanderreihen? Schaue den Himmel an; meinst du, daß ordnungs- und gesetzlos die Himmelskörper ihre Bahnen wandeln? Nein, nein! Was geschieht, das geschieht nicht von ungefähr, ein höheres Wesen leitet berechnend und bedeutungsvoll alles Erschaffne.


Mein Lebenslauf [II]*[Aus dem Jahre 1861]

Es macht auf mich immer einen eigentümlichen Eindruck, wenn ich auf die verflossnen Jahre zurückschaue und mir längst geschwundene Zeiten vergegenwärtige. Jetzt erst erkenne ich, wie manche Ereignisse auf meine Entwicklung eingewirkt haben, wie sich Geist und Herz durch den Einfluß der umgebenden Verhältnisse gestaltet haben. Denn wenn auch die Grundzüge des Charakters jedem Menschen gleichsam angeboren sind, so bilden doch erst die Zeit und die Umstände diese rohen Keime aus und prägen ihnen bestimmte Formen auf, die dann durch die Dauer fest und unverlöschlich werden. Wenn ich nun mein Leben ansehe, so finden sich mehrere Ereignisse, deren Einflüsse auf meine Entwicklung unverkennbar sind. Diese Vorfälle sind aber eben nur für mich bedeutsam und mögen für andre wenig Anziehendes haben.

    Mein Vater war Geistlicher zu Röcken, einem Dorf, das in der Nähe von Lützen liegt und sich an der Landstraße hinstreckt. Rings wird es durch mehrere größere Teiche, teils durch frische Waldungen umgeben, ist aber sonst weder schön, noch anziehend gelegen. Hier bin ich am 15. 10. 1844 geboren und erhielt meinem Geburtstag zufolge den Namen Friedrich Wilhelm. Was ich über die ersten Jahre meines Lebens weiß, ist zu unbedeutend, es zu erzählen. Verschiedene Eigenschaften entwickelten sich schon sehr frühe, eine gewisse betrachtende Ruhe und Schweigsamkeit, durch die ich mich von andern Kindern leicht fernhielt, dabei eine bisweilen ausbrechende Leidenschaftlichkeit.

    Bedeutungsvoll war für mich das Jahr 1848. Neue Eindrücke nahm ich hier in mich auf; ich lernte das Kriegswesen durch die Einquartierung von Husaren kennen. Von der ausgebreiteten Revolution blieb unser Ort verschont, doch erinnere ich mich noch wohl, auf der Landstraße häufig Wagen mit großen bunten Fahnen und Leuten, die Lieder sangen, gesehen zu haben. Wichtiger wurde für mich noch das Jahr durch die Krankheit meines Vaters, die sich noch bis ins folgende Jahr hinzog und dann schnell das Ende herbeibrachte. Es war eine Gehirnentzündung, in ihren Symptomen der Krankheit des höchst seligen Königs ungemein gleich. Trotz der ausgezeichneten Beihilfe des Hofrat Opolcer nachher Kaiserl. österreich. Leibarzt, nahm die Krankheit einen reißenden Fortgang. Unruhe und Besorgnis breitete sich um unser Haus, das früher der Aufenthalt der schönsten Glückseligkeit gewesen war. Und wenn ich auch die Größe der bevorstehenden Gefahr nicht völlig begriff, so mußte doch die traurige, angstvolle Stimmung auf mich einen beunruhigenden Eindruck machen. Die Leiden meines Vaters, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach endlich ein.

    Das war jene erste verhängnisvolle Zeit, von der aus sich mein ganzes Leben anders gestaltete.


Mein Lebenslauf [III]*[Aus dem Jahre 1861]

Ich bin zu Röcken geboren, einem Dorf, das in der Nähe von Lützen liegt und sich an der Landstraße entlang hinzieht. Rings wird es von Weidengebüsch und vereinzelten Pappeln und Ulmen umschlossen, so daß aus der Ferne nur die ragenden Schornsteine und der altertümliche Kirchturm durch die grünen Wipfel hindurchschauen. Innerhalb des Dorfes breiten sich größere Teiche aus, nur durch schmale Landstrecken voneinander getrennt: ringsum frisches Grün und knorrige Weiden. Etwas höher liegt das Pfarrhaus und die Kirche, ersteres von Gärten und Baumpflanzungen umgeben. Dicht grenzt der Friedhof an, voll von eingesunknen Grabsteinen und Kreuzen. Die Pfarrwohnung selbst wird von drei schön gewachsenen weitästigen Ulmen beschattet und macht durch ihren stattlichen Bau und ihre innere Einrichtung auf jeden Besucher einen angenehmen Eindruck.

    Hier bin ich am fünfzehnten Oktober 1844 geboren und erhielt meinem Geburtstag angemessen den Namen: »Friedrich Wilhelm«. Was ich über die ersten Jahre meines Lebens weiß, ist zu unbedeutend, um es zu erzählen. Verschiedne Eigenschaften entwickelten sich schon sehr frühe. So eine gewisse Ruhe und Schweigsamkeit, durch die ich mich von andern Kindern leicht fern hielt, dabei eine bisweilen ausbrechende Leidenschaftlichkeit. Von der Außenwelt unberührt lebte ich in einem glücklichen Familienkreis; das Dorf und die nächste Umgebung war meine Welt, alles Fernerliegende ein mir unbekanntes Zauberreich. – Der heitre Himmel, der mich bis jetzt umlacht hatte, wurde plötzlich von schwarzen, unheilschwangeren Wolken getrübt. Mein Vater erkrankte gefährlich, ohne daß wir die Ursache der Krankheit durchschauten. Der scharfe Blick des Hofrats Opolzer erkannte sofort die Symptome einer Gehirnerweichung. Der Zustand wurde immer schlimmer, immer bedenklicher. Die zunehmenden Leiden meines Vaters, sein Erblinden, seine abgezehrte Gestalt, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach auch ein – mein Vater starb. – Ich übergehe meinen Schmerz, meine Tränen, die Leiden meiner Mutter, die tiefe Betrübnis des Dorfes. Wie hat mich das Begräbnis ergriffen! Wie drangen mir die dumpfen Sterbeglocken durch Mark und Bein! Zuerst fühlte ich, daß ich verwaist und vaterlos sei, daß ich einen liebevollen Vater verloren habe. Sein Bild steht noch lebendig vor meiner Seele: eine hohe, schmächtige Gestalt mit feinen Gesichtszügen und wohlwollender Freundlichkeit. Überall beliebt und gern gesehn, sowohl wegen seines geistreichen Gesprächs, als seiner teilnehmenden Herzlichkeit, von den Bauern geehrt und geliebt, als Geistlicher durch Wort und Tat segensreich wirkend, in der Familie der zärtlichste Gatte, der liebevollste Vater, war er das vollendete Musterbild eines Landgeistlichen.

                                        »Ach sie haben

                   Einen guten Mann begraben,

                   Und mir war er mehr!«

Einige Monate darauf betraf mich ein zweites Unglück, das ich durch einen sonderbaren Traum vorausahnte. Mir war es, als hörte ich aus der nahen Kirche dumpfen Orgelton. Überrascht öffne ich das Fenster, das der Kirche und dem Friedhof zugewandt war. Das Grab meines Vaters tut sich auf, eine weiße Gestalt steigt herauf und verschwindet in der Kirche. Die düsteren, unheimlichen Klänge rauschen fort; die weiße Gestalt erscheint wieder, etwas unter dem Arm tragend, das ich nicht deutlich erkannte. Der Hügel hebt sich, die Gestalt versinkt, die Orgel verstummt – ich erwache. Am folgenden Morgen wird mein jüngerer Bruder, ein lebhaftes und begabtes Kind, von Krämpfen überfallen und ist in einer halben Stunde tot. Er wurde ganz unmittelbar an dem Grabe meines Vaters beerdigt. –

    Die Zeit, wo wir von unsrer geliebten Heimat scheiden sollten, rückte heran. Der letzte Tag und die letzte Nacht stehen mir noch besonders lebendig vor der Seele. Am Abend spielte ich noch mit mehreren Kindern, eingedenk, daß es das letzte Mal sei, und nahm dann von ihnen, wie auch von allen Orten, die mir lieb und teuer geworden waren, Abschied. Die Abendglocke hallte mit wehmütigem Klange durch die Fluren; mattes Dunkel breitete sich über unser Dorf, der Mond stieg auf und schaute bleich auf uns herab. Ich konnte nicht schlafen; unruhig und aufgeregt warf ich mich auf meinem Lager umher und stand endlich auf. Im Hof standen mehrere beladne Wagen, der matte Schein einer Laterne beleuchtete die Hofräume. Nie erschien mir meine Zukunft so dunkel und ungewiß, als damals. Sobald der Morgen graute, wurden die Pferde angeschirrt; wir fuhren durch den Morgennebel fort und riefen unsrer lieben Heimat wehmütig ein Lebewohl zu.

    Naumburg, das Ziel unserer Reise machte auf mich einen höchst sonderbaren Eindruck. Das viele Neue, Kirchen und Häuser, öffentliche Plätze und Straßen, alles erregte mein Erstaunen und verwirrte zuerst meine Sinne. Auch die Umgegend zog mich sehr an, die durch ihre schönen Berge und Flußtäler, Schlösser und Burgen die ländliche Einfachheit meiner Heimat sehr in Schatten stellte. Bald auch begann ich meine Schullaufbahn und wurde nach genügenden Vorkenntnissen einem Institut zum Unterricht übergeben. Diese Zeit wurde für mich auch besonders dadurch wichtig, daß ich damals zuerst die beiden Knaben kennenlernte, mit denen verbunden ich bis jetzt in treuer Freundschaft stehe. Überhaupt wurde meine Bekanntschaft erweitert; ich wurde von mehreren Familien freundlich aufgenommen und begann mich wieder heimisch und wohl zu fühlen. Im Kreis meiner Freunde verlebte ich frohe und glückliche Stunden; gleiche Bestrebungen, gleiche Wünsche banden unsere Seelen immer fester aneinander, so daß wir Freude und Leid gemeinsam genossen und ertrugen. Wie unbedeutend erscheinen doch die Trübsale der Knabenjahre! Leichte, fliehende Wolken verdunkeln die aufgegangene Sonne; wenn aber die Sonne hoch steht und die Erde dennoch düster erscheint, dann müssen wahrlich schwere, drohende Wolken sie verschleiern. – Bald auch wurde ich als reif für das Gymnasium erklärt und betrat jene Räume, die ich schon früher immer mit einem geheimen Schauer betrachtet hatte. Die düsteren Lehrzimmer, die strengen und gelehrten Mienen meiner Lehrer, die vielen, so erwachsenen Mitschüler, die mit Geringschätzung auf mich herabsahen und im Gefühl eigner Würde die Neulinge kaum beachteten, alles dies machte mich ängstlich und scheu, und erst allmählich gewöhnte ich mich, meine Stellung mit mehr Zuversicht und Ruhe zu behaupten. Zu gleicher Zeit entwickelten sich auch verschiedne Lieblingsneigungen, von denen einige sich bis jetzt erhalten haben. Insbesondere war es die Neigung zur Musik, die im Laufe der Zeit nur zunahm und jetzt unerschütterlich fest in meiner Seele wurzelt.

    Ich war regelmäßig bis Tertia vorgerückt und hatte hier schon ein Semester zugebracht, da traf mich eine Veränderung, die körperlich und geistig bedeutungsvoll auf mich eingewirkt hat. Es wurde uns eine Pförtner Alumnatsstelle angetragen; mir wurde ganz anheimgestellt, ob ich sie annehmen oder ausschlagen wollte. Schon früher hatte ich immer eine Zuneigung für Pforte gehegt, teils weil mich der gute Ruf der Anstalt und die berühmten Namen dort gewesener und dort seiender Männer anzogen, teils weil ich ihre schöne Lage und Umgebung bewunderte. Ich entschied mich schnell für die Annahme der Stelle und habe es nie bereut. Wenn auch die Trennung von Mutter, Schwester und lieben Freunden mir zuerst schwer fiel, so schwand dieses Gefühl doch sehr bald und ich fühlte mich bald hier wieder zufrieden und wohl. Ich verkenne nicht, wie wohltätig Pforte auf mich einwirkt, und ich kann nur wünschen, daß ich mich schon hier und noch mehr in spätren Zeiten immer als ein würdiger Sohn der Pforte erweise. –

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Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle*

19. 10. 61

Lieber Freund!

Einige Äußerungen aus deinem letzten Brief über Hölderlin haben mich sehr überrascht, und ich fühle mich bewogen, für diesen meinen Lieblingsdichter gegen dich in die Schranken zu treten. Ich will dir deine harten, ja ungerechten Worte noch einmal vor Augen führen; vielleicht, daß du schon jetzt eine andre Meinung hegst: »Wie Hölderlin dein Lieblingsdichter sein kann, ist mir völlig unerklärlich. Auf mich wenigstens haben diese verschwommenen, halbwahnsinnigen Laute eines zerrissenen, gebrochnen Gemütes nur einen traurigen, mitunter abstoßenden Eindruck gemacht. Unklares Gerede, mitunter Tollhäuslergedanken, heftige Ausbrüche gegen Deutschland, Vergötterung der Heidenwelt, bald Naturalismus, bald Pantheismus, bald Polytheismus, wirr durcheinander – dies alles ist seinen Gedichten aufgeprägt, allerdings in wohlgelungenen, griechischen Metren.« In wohlgelungenen, griechischen Metren! Mein Gott! Das ist dein ganzes Lob? Diese Verse (um nur von der äußeren Form zu reden) entquollen dem reinsten, weichsten Gemüt, diese Verse, in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit die Kunst und Formgewandtheit Platens verdunkelnd, diese Verse, bald im erhabensten Odenschwung einherwogend, bald in die zartesten Klänge der Wehmut sich verlierend, diese Verse kannst du mit keinem andern Wort beloben, als mit dem schalen, alltäglichen »Wohlgelungen«? Und das ist wahrlich nicht die größte Ungerechtigkeit. Unklares Gerede und mitunter Tollhäuslergedanken! Aus diesen schnöden Worten leuchtet mir soviel ein, daß du erstens von einem abgeschmackten Vorurteil gegen Hölderlin befangen bist, und zweitens vor allem, daß dir die Werke desselben nichts als unklare Einbildungen sind, indem du weder seine Gedichte, noch seine übrigen Erzeugnisse gelesen hast. Überhaupt scheinst du in dem Glauben zu stehen, als ob er nur Gedichte geschrieben hätte. So kennst du denn also nicht den Empedokles, dieses so bedeutungsvolle dramatische Fragment, in dessen schwermütigen Tönen die Zukunft des unglücklichen Dichters, das Grab eines jahrelangen Irrsinns, hindurchklingt, aber nicht, wie du meinst, in unklarem Gerede, sondern in der reinsten, sophokleischen Sprache und in einer unendlichen Fülle von tiefsinnigen Gedanken. Auch den Hyperion kennst du nicht, der in der wohlklingenden Bewegung seiner Prosa, in der Erhabenheit und Schönheit der darin auftauchenden Gestalten auf mich einen ähnlichen Eindruck macht, wie der Wellenschlag des erregten Meeres. In der Tat, diese Prosa ist Musik, weiche schmelzende Klänge, von schmerzlichen Dissonanzen unterbrochen, endlich verhauchend in düstren, unheimlichen Grabliedern. – Aber das Gesagte betraf vornehmlich nur die äußere Form; erlaube mir nun noch, einige Worte über die Gedankenfülle Hölderlins anzufügen, die du als Verwirrtheit und Unklarheit zu betrachten scheinst. Wenn dein Tadel auch wirklich einige Gedichte aus der Zeit seines Irrsinns trifft, und selbst in den frühern mitunter der Tiefsinn mit der einbrechenden Nacht des Wahnsinns ringt, so sind doch die bei weitem zahlreichsten derselben reine, köstliche Perlen unsrer Dichtkunst überhaupt. Ich verweise dich nur auf Gedichte, wie »Rückkehr in die Heimat«, »der gefesselte Strom«, »Sonnenuntergang«, »der blinde Sänger«, und führe dir selbst die letzten Strophen aus der »Abendphantasie« an, in dem sich die tiefste Melancholie und Sehnsucht nach Ruhe ausspricht.

    Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;

    Unzählig blühn die Rosen, und ruhig scheint

    Die goldne Welt; o dorthin nehmt mich,

    Purpurne Wolken! und mögen droben

        In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb und Leid! –

    Doch, wie verscheucht von törichter Bitte, flieht

    Der Zauber. Dunkel wird’s, und einsam

    Unter dem Himmel, wie immer, bin ich.

    Komm du nun, sanfter Schlummer! Zu viel begehrt

    Das Herz, doch endlich, Jugend, verglühst du ja!

    Du ruhelose, träumerische!

    Friedlich und heiter ist dann mein Alter.

In anderen Gedichten, wie besonders in dem »Andenken« und der »Wanderung«, erhebt uns der Dichter zur höchsten Idealität, und wir fühlen mit ihm, daß diese sein heimatliches Element war. Endlich ist noch eine ganze Reihe von Gedichten bemerkenswert, in denen er den Deutschen bittre Wahrheiten sagt, die leider nur oft allzu begründet sind. Auch im Hyperion schleudert er scharfe und schneidende Worte gegen das deutsche »Barbarentum«. Dennoch ist dieser Abscheu vor der Wirklichkeit mit der größten Vaterlandsliebe vereinbar, die Hölderlin auch wirklich in hohem Grade besaß. Aber er haßte in dem Deutschen den bloßen Fachmenschen, den Philister. –

    In dem nicht vollendeten Trauerspiel »Empedokles« entfaltet uns der Dichter seine eigne Natur. Empedokles’ Tod ist ein Tod aus Götterstolz, aus Menschenverachtung, aus Erdensattheit und Pantheismus. Das ganze Werk hat mich immer beim Lesen ganz besonders erschüttert; es lebt eine göttliche Hoheit in diesem Empedokles. Im Hyperion hingegen, ob er gleich von verklärendem Schimmer umflossen scheint, ist alles unbefriedigt und unerfüllt; die Gestalten, die der Dichter hervorzaubert, sind »Luftbilder, die in Tönen, Heimweh weckend, uns umklingen, uns entzücken, aber auch unbefriedigte Sehnsucht erwecken.« Nirgends aber auch offenbart sich die Sehnsucht nach Griechenland in reineren Klängen, als hier; nirgends auch tritt die Seelenverwandtschaft Hölderlins mit Schiller und Hegel, seinem vertrauten Freund, deutlicher hervor.

    Nur zu wenig habe ich bis jetzt berühren können, aber ich muß es dir, lieber Freund, überlassen, aus den angedeuteten Zügen ein Bild des unglücklichen Dichters dir zusammenzustellen. Daß ich dir die Vorwürfe, die du ihm wegen seiner widersprechenden Religionsansichten machst, nicht widerlege, mußt du meiner allzu geringen Kenntnis der Philosophie zuschreiben, die ein näheres Betrachten jener Erscheinung im hohen Maße erfordert. Vielleicht unterziehst du dich einmal der Mühe, näher auf diesen Punkt einzugehn und durch die Beleuchtung desselben etwas Licht auf die Ursachen seiner Geisteszerrüttung zu werfen, die allerdings schwerlich hierin ihre einzigen Wurzeln haben.

    Du verzeihst mir gewiß, wenn ich mich in meiner Begeisterung mitunter zu harter Worte gegen dich bedient habe; ich wünsche nur – und das betrachte als den Zweck meines Briefes – daß du durch denselben zu einer Kenntisnahme und vorurteilsfreien Würdigung jenes Dichters bewogen würdest, den die Mehrzahl seines Volkes kaum dem Namen nach kennt.

Dein Freund FW Nietzsche

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Über Stimmungen

Man vergegenwärtige sich, wie ich am Abende des ersten Ostertages in einen Schlafrock eingehüllt zu Hause sitze; draußen regnet es fein; niemand ist sonst im Zimmer. Ich starre lang auf das vor mir liegende weiße Papier, die Feder in der Hand, ärgerlich über die wirre Menge von Stoffen, Ereignissen und Gedanken, die alle niedergeschrieben zu werden verlangen; und manche verlangen es sehr stürmisch, da sie noch jung und gärend wie Most sind; dagegen sträubt sich aber mancher alte, ausgereifte, geklärte Gedanke, wie ein alter Herr, der mit zweideutigem Blick die Bestrebungen der jungen Welt mißt. Sagen wir es offen, unsre Gemütsverfassung ist durch den Streit jener alten und jungen Welt bestimmt, und wir nennen die jedesmalige Lage des Streites Stimmung oder auch, etwas verächtlich, Laune.

    Als guter Diplomat erhebe ich mich etwas über die zwistigen Parteien und schildere den Zustand des Staates mit der Unbefangenheit eines Mannes, der Tag für Tag aus Versehn allen Parteisitzungen beiwohnt und denselben Grundsatz praktisch anwendet, den er auf der Tribüne verspottet und auszischt.

    Gestehn wir es, ich schreibe über Stimmungen, indem ich eben jetzt gestimmt bin; und es ist ein Glück, daß ich gerade zum Beschreiben der Stimmungen gestimmt bin.

    Ich habe an diesem Tage viel die Consolations von Liszt gespielt, und ich fühle, wie die Töne in mich eingedrungen sind und in mir vergeistigt widerklingen. Und ich habe kürzlich eine schmerzliche Erfahrung gemacht und einen Abschied oder einen Nichtabschied erlebt, und nun merke ich, wie dies Gefühl und jene Töne sich miteinander verschmolzen haben und glaube, daß die Musik mir nicht gefallen haben würde, wenn ich nicht diese Erfahrung gemacht. Das Gleichartige also sucht die Seele an sich zu ziehen, und die vorhandne Masse von Empfindungen drückt die neuen Ereignisse, die das Herz treffen, aus wie eine Zitrone, doch immer so, daß nur ein Teil des Neuen sich mit dem Alten vereinigt, daß aber doch ein Rest bleibt, der noch nichts Verwandtes in der Seelenwohnung findet und deshalb allein sich hier einlogiert, recht oft zur Unlust der alten Bewohner, mit denen er darum oft in Streit gerät. Aber siehe! da kommt ein Freund, da öffnet sich ein Buch, dort geht ein Mädchen, horch! da klingt Musik! – Schon strömen wieder von allen Seiten neue Gäste in das allen offenstehende Haus und der eben Alleinstehende findet viele und edle Verwandte.

    Aber es ist wundersam; nicht die Gäste kommen, weil sie wollen, oder nicht die Gäste kommen, wie sie sind; sondern es kommen die, welche müssen und nur eben die, welche müssen. Alles, was die Seele nicht reflektieren kann, trifft sie nicht; da es aber in der Macht des Willens steht, die Seele reflektieren zu lassen oder nicht, trifft die Seele nur das, was sie will. Und das scheint vielen widersinnig; denn sie erinnern sich, wie sie sich gegen gewisse Empfindungen sträuben. Aber was bestimmt schließlich den Willen? Oder wie oft schläft der Wille und nur die Triebe und Neigungen wachen! Eine der stärksten Neigungen der Seele aber ist eine gewisse Neubegierde, ein Hang nach dem Ungewohnten, und aus diesem erklärt sich, warum wir oft uns in unangenehme Stimmungen versetzen lassen.

    Aber nicht nur durch den Willen nimmt die Seele an; die Seele ist aus demselben Stoff aus dem die Ereignisse gemacht sind oder aus ähnlichem und so kommt es, daß ein Ereignis, das keine verwandte Saite trifft, doch mit der Last der Stimmung schwer auf der Seele liegt und allmählich ein solches Übergewicht erlangen kann, daß es den andern Inhalt der Seele zusammendrückt und einengt.

    Stimmungen kommen also entweder aus innern Kämpfen oder aus einem äußern Druck auf die innere Welt. Hier ein Bürgerkrieg zweier Heerlager, dort eine Bedrückung des Volkes von seiten eines Standes, einer kleinen Minorität.

    Ist mir’s doch oft, wenn ich meine eignen Gedanken und Gefühle belausche und stumm auf mich achte, als ob ich das Summen und Brausen der wilden Parteien hörte, als ob ein Rauschen durch die Luft ginge, wie wenn ein Gedanke oder ein Adler zur Sonne fliegt.

    Kampf ist der Seele fortwährende Nahrung, und sie weiß sich aus ihm noch genug Süßes und Schönes herauszunehmen. Sie vernichtet und gebiert dabei Neues, sie kämpft heftig und zieht den Gegner doch sanft auf ihre Seite zu inniger Vereinigung. Und das Wunderbarste ist, daß sie nie auf das Äußre achtet, Name, Personen, Gegenden, schöne Worte, Schriftzüge, alles ist ihr von untergeordnetem Werte, aber sie schätzt das, was in der Hülle ruht.

    Das, was jetzt vielleicht dein ganzes Glück oder dein ganzes Herzeleid ist, wird vielleicht in kurzem nur noch das Gewand eines noch tiefern Gefühls sein und wird darum in sich verschwinden, wenn das Höhere kommt. Und so vertiefen sich immer mehr unsre Stimmungen, keine einzige gleicht einer andern genau, sondern jede ist unergründlich jung und die Geburt des Augenblicks.

    Ich denke jetzt an manches, was ich liebte; Namen und Personen wechselten und ich will nicht behaupten, daß wirklich ihre Naturen immer liefer und schöner geworden wären; wohl aber ist es wahr, daß jede dieser ähnlichen Stimmungen für mich einen Fortschritt bedeutet, und daß es dem Geist unerträglich ist, dieselben Stufen, die er durchschritt, noch einmal zu durchschreiten; immer mehr in Tiefe und Höhe will er sich breiten.

    Seid mir gegrüßt, liebe Stimmungen, wundersame Wechsel einer stürmischen Seele, mannigfach wie die Natur ist, aber großartiger als die Natur ist, da ihr ewig euch steigert, ewig aufstrebt; die Pflanze aber duftet noch jetzt wie sie am Tage der Schöpfung duftete. Ich liebe nicht mehr, wie ich vor Wochen liebte; ich bin in diesem Augenblick nicht mehr so gestimmt, wie ich es beim Beginn des Schreibens war. –

Ich versucht es erst in Tönen: siehe, es ging nicht; weiter stürmte das Herz; und der Ton blieb tot. Ich versucht es dann in Versen; nein, nicht Reime fassen’s, nicht ruhige, gemessne Rhythmen. Fort Papier: ein neues her, und nun kritzle schnell Feder, nun rasch, Tinte!

    Weicher Sommerabend; dämmernd und blaßstreifig. Kinderstimmen auf den Gassen; in der Ferne Lärm und Musik; es ist Messe; die Leute tanzen, bunte Laternen brennen, die wilden Tiere brummen, hier knallt ein Schuß, dort Paukengerassel, gleichmäßig, durchdringend.

    Es ist etwas dunkel in der Stube; ich zünd ein Licht an; doch blickt des Tages Auge neugierig durch die halbverhangenen Fenster. O es möchte weiter sehn, mitten hinein in dies Herz, das heißer als das Licht, dämmernder als der Abend, bewegter als die Stimmen aus der Ferne, tief innerlich zittert und schwingt, wie eine große Glocke, die bei einem Gewitter geläutet wird.

    Und ich erflehe ein Gewitter; zieht nicht das Glockenläuten die Blitze an? Nun, so nahe Gewitter, läutere, reinige, blase Regendüfte in meine matte Natur, sei willkommen, endlich willkommen!

    Sieh! Da zuckst du, erster Blitz, mitten hinein in das Herz, und daraus steigt’s wie ein langer, fahler Nebel aufwärts. Kennst du ihn, den düstern, tückischen? Schon blickt mein Auge heller, und meine Hand strecke ich nach ihm aus, um ihm zu fluchen. Und der Donner murrt; und eine Stimme erscholl: »Sei gereinigt.«

    Dumpfe Schwüle; mein Herz schwillt. Nichts regt sich. Da, ein leiser Hauch, am Boden zittert das Gras – sei mir willkommen, Regen, lindernder, erlösender! Hier ist’s öde, leer, tot; pflanze du von neuem.

    Sieh: Ein zweiter Schlag! Grell und zweischneidig mitten ins Herz! Und eine Stimme scholl: »Hoffe.«

    Und ein weicher Duft zieht aus dem Boden, ein Wind flattert heran, und ihm folgt der Sturm, heulend und seine Beute haschend. Abgeknickte Blüten jagt er vor sich her. Der Regen schwimmt lustig dem Sturm nach.

    Mitten durchs Herz. Sturm und Regen! Blitz und Donner! Mitten hindurch! Und eine Stimme scholl: »Werde neu!«

1864


Uit: Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: [Aus dem Jahre 1866]. Friedrich Nietzsche: Werke


                Dionysos-Dithyramben

                         Indem ich der Menschheit eine unbegrenzte Wohltat erweisen will, gebe ich ihr meine Dithyramben.

                         Ich lege sie in die Hände des Dichters der Isoline, des größten und ersten Satyr, der heute lebt – und nicht nur heute…

                                                                             Dionysos


                     Nur Narr! Nur Dichter!

        Bei abgehellter Luft,

        wenn schon des Taus Tröstung

        zur Erde niederquillt,

        unsichtbar, auch ungehört

        – denn zartes Schuhwerk trägt

        der Tröster Tau gleich allen Trostmilden –

        gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz,

        wie einst du durstetest,

        nach himmlischen Tränen und Taugeträufel

        versengt und müde durstetest,

        dieweil auf gelben Graspfaden

        boshaft abendliche Sonnenblicke

        durch schwarze Bäume um dich liefen,

        blendende Sonnen-Glutblicke, schadenfrohe.


        »Der Wahrheit Freier – du?« so höhnten sie –

        »Nein! nur ein Dichter!

        ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes,

        das lügen muß,

        das wissentlich, willentlich lügen muß,

        nach Beute lüstern,

        bunt verlarvt,

        sich selbst zur Larve,

        sich selbst zur Beute,

        das – der Wahrheit Freier?…


        Nur Narr! nur Dichter!

        Nur Buntes redend,

        aus Narrenlarven bunt herausredend,

        herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken,

        auf Lügen-Regenbogen

        zwischen falschen Himmeln

        herumschweifend, herumschleichend –

        nur Narr! nur Dichter!…


        Das – der Wahrheit Freier?…

        Nicht still, starr, glatt, kalt,

        zum Bilde worden,

        zur Gottes-Säule,

        nicht aufgestellt vor Tempeln,

        eines Gottes Türwart:

        nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern,

        in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln,

        voll Katzen-Mutwillens

        durch jedes Fenster springend

        husch! in jeden Zufall,

        jedem Urwalde zuschnüffelnd,

        daß du in Urwäldern

        unter buntzottigen Raubtieren

        sündlich gesund und schön und bunt liefest,

        mit lüsternen Lefzen,

        selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig,

        raubend, schleichend, lügend liefest…


        Oder dem Adler gleich, der lange,

        lange starr in Abgründe blickt,

        in seine Abgründe…

        – o wie sie sich hier hinab,

        hinunter, hinein,

        in immer tiefere Tiefen ringeln! –

        Dann,

        plötzlich,

        geraden Flugs,

        gezückten Zugs

        auf Lämmer stoßen,

        jach hinab, heißhungrig,

        nach Lämmern lüstern,

        gram allen Lamms-Seelen,

        grimmig gram allem, was blickt

        tugendhaft, schafmäßig, krauswollig,

        dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen…


        Also

        adlerhaft, pantherhaft

        sind des Dichters Sehnsüchte,

        sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,

        du Narr! du Dichter!…

                Der du den Menschen schautest

        so Gott als Schaf –,

        den Gott zerreißen im Menschen

        wie das Schaf im Menschen

        und zerreißend lachen –


        das, das ist deine Seligkeit,

        eines Panthers und Adlers Seligkeit,

        eines Dichters und Narren Seligkeit!«…


        Bei abgehellter Luft,

        wenn schon des Monds Sichel

        grün zwischen Purpurröten

        und neidisch hinschleicht,

        – dem Tage feind,

        mit jedem Schritte heimlich

        an Rosen-Hängematten

        hinsichelnd, bis sie sinken,

        nachtabwärts blaß hinabsinken:


        so sank ich selber einstmals

        aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,

        aus meinen Tages-Sehnsüchten,

        des Tages müde, krank vom Lichte,

        – sank abwärts, abendwärts, schattenwärts,

        von einer Wahrheit

        verbrannt und durstig

        – gedenkst du noch, gedenkst du, heißes Herz,

        wie da du durstetest? –

        daß ich verbannt sei

        von aller Wahrheit!

        Nur Narr! Nur Dichter!…


                         Die Wüste wächst:

                weh dem, der Wüsten birgt…

    Ha!

    Feierlich!

    ein würdiger Anfang!

    afrikanisch feierlich!

    eines Löwen würdig

    oder eines moralischen Brüllaffen…

    – aber nichts für euch,

    ihr allerliebsten Freundinnen,

    zu deren Füßen mir,

    einem Europäer unter Palmen,

    zu sitzen vergönnt ist. Sela.


    Wunderbar wahrlich!

    Da sitze ich nun,

    der Wüste nahe und bereits

    so ferne wieder der Wüste,

    auch in nichts noch verwüstet:

    nämlich hinabgeschluckt

    von dieser kleinen Oasis

    – sie sperrte gerade gähnend

    ihr liebliches Maul auf,

    das wohlriechendste aller Mäulchen:

    da fiel ich hinein,

    hinab, hindurch – unter euch,

    ihr allerliebsten Freundinnen! Sela.


    Heil, Heil jenem Walfische,

    wenn er also es seinem Gaste

    wohlsein ließ! – ihr versteht

    meine gelehrte Anspielung?…


    Heil seinem Bauche,

    wenn es also

    ein so lieblicher Oasis-Bauch war,

    gleich diesem: was ich aber in Zweifel ziehe.

    Dafür komme ich aus Europa,

    das zweifelsüchtiger ist als alle Eheweibchen.

    Möge Gott es bessern!

    Amen.


    Da sitze ich nun,

    in dieser kleinsten Oasis,

    einer Dattel gleich,

    braun, durchsüßt, goldschwürig,

    lüstern nach einem runden Mädchen-Maule,

    mehr aber noch nach mädchenhaften

    eiskalten schneeweißen schneidigen

    Beißzähnen: nach denen nämlich

    lechzt das Herz allen heißen Datteln. Sela.


    Den genannten Südfrüchten

    ähnlich, allzuähnlich

    liege ich hier, von kleinen

    Flügelkäfern

    umtänzelt und umspielt,

    insgleichen von noch kleineren

    törichteren boshafteren

    Wünschen und Einfällen, –

    umlagert von euch,

    ihr stummen, ihr ahnungsvollen

    Mädchen-Katzen

    Dudu und Suleika

    – umsphinxt, daß ich in ein Wort

    viel Gefühle stopfe

    (– vergebe mir Gott

    diese Sprachsünde!…)

    – sitze hier, die beste Luft schnüffelnd,

    Paradieses-Luft wahrlich,

    lichte leichte Luft, goldgestreifte,

    so gute Luft nur je

    vom Monde herabfiel,

    sei es aus Zufall

    oder geschah es aus Übermute?

    wie die alten Dichter erzählen.

    Ich Zweifler aber ziehe es in Zweifel,

    dafür komme ich

    aus Europa,

    das zweifelsüchtiger ist als alle Eheweibchen.

    Möge Gott es bessern!

    Amen.


    Diese schönste Luft atmend,

    mit Nüstern geschwellt gleich Bechern,

    ohne Zukunft, ohne Erinnerungen,

    so sitze ich hier, ihr

    allerliebsten Freundinnen,

    und sehe der Palme zu,

    wie sie, einer Tänzerin gleich,

    sich biegt, und schmiegt und in der Hüfte wiegt

    – man tut es mit, sieht man lange zu…

    einer Tänzerin gleich, die, wie mir scheinen will,

    zu lange schon, gefährlich lange

    immer, immer nur auf einem Beinchen stand?

    – da vergaß sie darob, wie mir scheinen will,

    das andre Beinchen?

    Vergebens wenigstens

    suchte ich das vermißte

    Zwillings-Kleinod

    – nämlich das andre Beinchen –

    in der heiligen Nähe

    ihres allerliebsten, allerzierlichsten

    Fächer- und Flatter- und Flitter-Röckchens.

    Ja, wenn ihr mir, ihr schönen Freundinnen,

    ganz glauben wollt:

    sie hat es verloren…

    Hu! Hu! Hu! Hu! Huh!…

    Es ist dahin,

    auf ewig dahin,

    das andre Beinchen!

    O schade um dies liebliche andre Beinchen!

    Wo – mag es wohl weilen und verlassen trauern,

    dieses einsame Beinchen?

    In Furcht vielleicht vor einem

    grimmen gelben blondgelockten

    Löwen-Untiere? oder gar schon

    abgenagt, abgeknappert –

    erbärmlich! wehe! wehe! abgeknabbert! Sela.


    O weint mir nicht,

    weiche Herzen!

    Weint mir nicht, ihr

    Dattel-Herzen! Milch-Busen!

    Ihr Süßholz-Herz-

    Beutelchen!

    Sei ein Mann, Suleika! Mut! Mut!

    Weine nicht mehr,

    bleiche Dudu!

    – Oder sollte vielleicht

    etwas Stärkeres, Herz-Stärkendes

    hier am Platze sein?

    ein gesalbter Spruch?

    ein feierlicher Zuspruch?…


    Ha!

    Herauf, Würde!

    Blase, blase wieder,

    Blasebalg der Tugend!

    Ha!


    Noch einmal brüllen,

    moralisch brüllen,

    als moralischer Löwe vor den Töchtern der Wüste brüllen!

    – Denn Tugend-Geheul,

    ihr allerliebsten Mädchen,

    ist mehr als alles

    Europäer-Inbrunst, Europäer-Heißhunger!

    Und da stehe ich schon,

    als Europäer,

    ich kann nicht anders, Gott helfe mir!

    Amen!


    Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!

    Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.

    Der ungeheure Tod blickt glühend braun

    und kaut –, sein Leben ist sein Kaun…

        Vergiß nicht, Mensch, den Wollust ausgeloht:

    du – bist der Stein, die Wüste, bist der Tod…


                              Letzter Wille

        So sterben,

        wie ich ihn einst sterben sah –,

        den Freund, der Blitze und Blicke

        göttlich in meine dunkle Jugend warf:

        – mutwillig und tief,

        in der Schlacht ein Tänzer –,


        unter Kriegern der Heiterste,

        unter Siegern der Schwerste,

        auf seinem Schicksal ein Schicksal stehend,

        hart, nachdenklich, vordenklich –:


        erzitternd darob, daß er siegte,

        jauchzend darüber, daß er sterbend siegte –:


        befehlend, indem er starb,

        – und er befahl, daß man vernichte…


        So sterben,

        wie ich ihn einst sterben sah:

        siegend, vernichtend…


                      Zwischen Raubvögeln

        Wer hier hinab will,

        wie schnell

        schluckt den die Tiefe!

        – Aber du, Zarathustra,

        liebst den Abgrund noch,

        tust der Tanne es gleich? –


        Die schlägt Wurzeln, wo

        der Fels selbst schaudernd

        zur Tiefe blickt –,

        die zögert an Abgründen,

        wo alles rings

        hinunter will:

        zwischen der Ungeduld

        wilden Gerölls, stürzenden Bachs

        geduldig duldend, hart, schweigsam,

        einsam…


        Einsam!

        Wer wagte es auch,

        hier zu Gast zu sein,

        dir Gast zu sein?…

        Ein Raubvogel vielleicht,

        der hängt sich wohl

        dem standhaften Dulder

        schadenfroh ins Haar,

        mit irrem Gelächter,

        einem Raubvogel-Gelächter…


        Wozu so standhaft?

        – höhnt er grausam:

        man muß Flügel haben, wenn man

        den Abgrund liebt…

        man muß nicht hängen bleiben,

        wie du, Gehängter! –


        O Zarathustra,

        grausamster Nimrod!

        Jüngst Jünger noch Gottes,

        das Fangnetz aller Tugend,

        der Pfeil des Bösen! –

        Jetzt –

        von dir selber erjagt,

        deine eigene Beute,

        in dich selber eingebohrt…


        Jetzt –

        einsam mit dir,

        zwiesam im eignen Wissen,

        zwischen hundert Spiegeln

        vor dir selber falsch,

        zwischen hundert Erinnerungen

        ungewiß,

        an jeder Wunde müd,

        an jedem Froste kalt,

        in eignen Stricken gewürgt,

        Selbstkenner!

        Selbsthenker!


        Was bandest du dich

        mit dem Strick deiner Weisheit?

        Was locktest du dich

        ins Paradies der alten Schlange?

        Was schlichst du dich ein

        in dich – in dich?…


        Ein Kranker nun,

        der an Schlangengift krank ist;

        ein Gefangner nun,

        der das härteste Los zog:

        im eignen Schachte

        gebückt arbeitend,

        in dich selber eingehöhlt,

        dich selber angrabend,

        unbehilflich,

        steif,

        ein Leichnam –,

        von hundert Lasten übertürmt,

        von dir überlastet,

        ein Wissender!

        ein Selbsterkenner!

        der weise Zarathustra!…


        Du suchtest die schwerste Last:

        da fandest du dich –,

        du wirfst dich nicht ab von dir…


        Lauernd,

        kauernd,

        einer, der schon nicht mehr aufrecht steht!

        Du verwächst mir noch mit deinem Grabe,

        verwachsener Geist!…


        Und jüngst noch so stolz,

        auf allen Stelzen deines Stolzes!

        Jüngst noch der Einsiedler ohne Gott,

        der Zweisiedler mit dem Teufel,

        der scharlachne Prinz jedes Übermuts!…


        Jetzt –

        zwischen zwei Nichtse

        eingekrümmt,

        ein Fragezeichen,

        ein müdes Rätsel –

        ein Rätsel für Raubvögel…

        – sie werden dich schon »lösen«,

        sie hungern schon nach deiner »Lösung«,

        sie flattern schon um dich, ihr Rätsel,

        um dich, Gehenkter!…

        O Zarathustra!…

        Selbstkenner!…

        Selbsthenker!…


                          Das Feuerzeichen

Hier, wo zwischen Meeren die Insel wuchs,

ein Opferstein jäh hinaufgetürmt,

hier zündet sich unter schwarzem Himmel

Zarathustra seine Höhenfeuer an, –

Feuerzeichen für verschlagne Schiffer,

Fragezeichen für solche, die Antwort haben…

Diese Flamme mit weißgrauem Bauche

– in kalte Fernen züngelt ihre Gier,

nach immer reineren Höhen biegt sie den Hals –

eine Schlange gerad aufgerichtet vor Ungeduld:

dieses Zeichen stellte ich vor mich hin.


Meine Seele selber ist diese Flamme:

unersättlich nach neuen Fernen

lodert aufwärts, aufwärts ihre stille Glut.

Was floh Zarathustra vor Tier und Menschen?

Was entlief er jäh allem festen Lande?

Sechs Einsamkeiten kennt er schon –,

aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam,

die Insel ließ ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme,

nach einer siebenten Einsamkeit

wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt.

Verschlagne Schiffer! Trümmer alter Sterne!

Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte Himmel!

nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel:

gebt Antwort auf die Ungeduld der Flamme,

fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen,

meine siebente, letzte Einsamkeit! – –


                            Die Sonne sinkt

                                        1

        Nicht lange durstest du noch,

                verbranntes Herz!

        Verheißung ist in der Luft,

        aus unbekannten Mündern bläst mich’s an,

                – die große Kühle kommt…


        Meine Sonne stand heiß über mir im Mittage:

        seid mir gegrüßt, daß ihr kommt,

                ihr plötzlichen Winde,

        ihr kühlen Geister des Nachmittags!


        Die Luft geht fremd und rein.

        Schielt nicht mit schiefem

                Verführerblick

        die Nacht mich an?…

        Bleib stark, mein tapfres Herz!

        Frag nicht: warum? –


                                        2

        Tag meines Lebens!

        die Sonne sinkt.

        Schon steht die glatte

                Flut vergüldet.

        Warm atmet der Fels:

                schlief wohl zu Mittag

        das Glück auf ihm seinen Mittagsschlaf? –

                In grünen Lichtern

        spielt Glück noch der braune Abgrund herauf.


        Tag meines Lebens!

        gen Abend gehts!

        Schon glüht dein Auge

                halbgebrochen,

        schon quillt deines Taus

                Tränengeträufel,

        schon läuft still über weiße Meere

        deiner Liebe Purpur,

        deine letzte zögernde Seligkeit.


                                        3

        Heiterkeit, güldene, komm!

                du des Todes

        heimlichster, süßester Vorgenuß!

        – Lief ich zu rasch meines Wegs?

        Jetzt erst, wo der Fuß müde ward,

                holt dein Blick mich noch ein,

                holt dein Glück mich noch ein.


        Rings nur Welle und Spiel.

                Was je schwer war,

        sank in blaue Vergessenheit –

        müßig steht nun mein Kahn.

        Sturm und Fahrt – wie verlernt er das!

                Wunsch und Hoffen ertrank,

                glatt liegt Seele und Meer.


        Siebente Einsamkeit!

                Nie empfand ich

        näher mir süße Sicherheit,

        wärmer der Sonne Blick.

        – Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?

                Silbern, leicht, ein Fisch

                schwimmt nun mein Nachen hinaus.


                          Klage der Ariadne

    Wer wärmt mich, wer liebt mich noch?

                Gebt heiße Hände!

                gebt Herzens-Kohlenbecken!

    Hingestreckt, schaudernd,

    Halbtotem gleich, dem man die Füße wärmt,

    geschüttelt ach! von unbekannten Fiebern,

    zitternd vor spitzen eisigen Frostpfeilen,

                von dir gejagt, Gedanke!

    Unnennbarer! Verhüllter, Entsetzlicher!

                Du Jäger hinter Wolken!

    Darniedergeblitzt von dir,

    du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt!

                So liege ich,

    biege mich, winde mich, gequält

    von allen ewigen Martern,

                getroffen

    von dir, grausamster Jäger,

    du unbekannter – Gott…


    Triff tiefer!

    Triff einmal noch!

    Zerstich, zerstich dies Herz!

    Was soll dies Martern

    mit zähnestumpfen Pfeilen?

    Was blickst du wieder,

    der Menschen-Qual nicht müde,

    mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen?

    Nicht töten willst du,

    nur martern, martern?

    Wozu – mich martern,

    du schadenfroher unbekannter Gott?


    Haha!

    du schleichst heran

    bei solcher Mitternacht?…

    Was willst du?

    Sprich!

    Du drängst mich, drückst mich,

    Ha! schon viel zu nahe!

    Du hörst mich atmen,

    du behorchst mein Herz,

    du Eifersüchtiger!

    – worauf doch eifersüchtig?

    Weg! Weg!

    wozu die Leiter?

    willst du hinein,

    ins Herz, einsteigen,

    in meine heimlichsten

    Gedanken einsteigen?

    Schamloser! Unbekannter! Dieb!

    Was willst du dir erstehlen?

    Was willst du dir erhorchen?

    Was willst du dir erfoltern,

    du Folterer

    du – Henker-Gott!

    Oder soll ich, dem Hunde gleich,

    vor dir mich wälzen?

    Hingebend, begeistert außer mir

    dir Liebe – zuwedeln?


    Umsonst!

    Stich weiter!

    Grausamster Stachel!

    Kein Hund – dein Wild nur bin ich,

    grausamster Jäger!

    deine stolzeste Gefangne,

    du Räuber hinter Wolken…

    Sprich endlich!

    Du Blitz-Verhüllter! Unbekannter! sprich!

    Was willst du, Wegelagerer, von – mir?…


    Wie?

    Lösegeld?

    Was willst du Lösegelds?

    Verlange viel – das rät mein Stolz!

    und rede kurz – das rät mein andrer Stolz!

    Haha!

    Mich – willst du? mich?

    mich – ganz?…


    Haha!

    Und marterst mich, Narr, der du bist,

    zermarterst meinen Stolz?

    Gib Liebe mir – wer wärmt mich noch?

                wer liebt mich noch?

    gib heiße Hände,

    gib Herzens-Kohlenbecken,

    gib mir, der Einsamsten,

    die Eis, ach! siebenfaches Eis

    nach Feinden selber,

    nach Feinden schmachten lehrt,

    gib, ja ergib,

    grausamster Feind,

    mir – dich!…

    Davon!

    Da floh er selber,

    mein einziger Genoß,

    mein großer Feind,

    mein Unbekannter,

    mein Henker-Gott!…


    Nein!

    komm zurück!

    Mit allen deinen Martern!

    All meine Tränen laufen

    zu dir den Lauf

    und meine letzte Herzensflamme

    dir glüht sie auf.

    O komm zurück,

    mein unbekannter Gott! mein Schmerz!

                mein letztes Glück!…


                                  Ein Blitz.

   Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar.


                                  Dionysos:

    Sei klug, Ariadne!…

    Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren:

    steck ein kluges Wort hinein! –

    Muß man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll?…

    Ich bin dein Labyrinth…


                        Ruhm und Ewigkeit

                                        1

    Wie lange sitzest du schon

                auf deinem Mißgeschick?

    Gib acht! du brütest mir noch

                ein Ei,

                ein Basilisken-Ei

    aus deinem langen Jammer aus.


    Was schleicht Zarathustra entlang dem Berge? –


    Mißtrauisch, geschwürig, düster,

    ein langer Lauerer –,

    aber plötzlich, ein Blitz,

    hell, furchtbar, ein Schlag

    gen Himmel aus dem Abgrund:

    – dem Berge selber schüttelt sich

    das Eingeweide…


    Wo Haß und Blitzstrahl

    Eins ward, ein Fluch –,

    auf den Bergen haust jetzt Zarathustras Zorn,

    eine Wetterwolke schleicht er seines Wegs.


    Verkrieche sich, wer eine letzte Decke hat!

    Ins Bett mit euch, ihr Zärtlinge!

    Nun rollen Donner über die Gewölbe,

    nun zittert, was Gebälk und Mauer ist,

    nun zucken Blitze und schwefelgelbe Wahrheiten –

                Zarathustra flucht…


                                        2

    Diese Münze, mit der

    alle Welt bezahlt,

    Ruhm –,

    mit Handschuhen fasse ich diese Münze an,

    mit Ekel trete ich sie unter mich.


    Wer will bezahlt sein?

    Die Käuflichen…

    Wer feil steht, greift

    mit fetten Händen

    nach diesem Allerwelts-Blechklingklang Ruhm!


    – Willst du sie kaufen?

    Sie sind alle käuflich.

    Aber biete viel!

    klingle mit vollem Beutel!

    – du stärkst sie sonst,

    du stärkst sonst ihre Tugend…


    Sie sind alle tugendhaft.

    Ruhm und Tugend – das reimt sich.

    So lange die Welt lebt,

    zahlt sie Tugend-Geplapper

    mit Ruhm-Geklapper –,

    die Welt lebt von diesem Lärm…


    Vor allen Tugendhaften

                will ich schuldig sein,

    schuldig heißen mit jeder großen Schuld!

    Vor allen Ruhms-Schalltrichtern

    wird mein Ehrgeiz zum Wurm –,

    unter solchen gelüstets mich,

    der Niedrigste zu sein…


    Diese Münze, mit der

    alle Welt bezahlt,

    Ruhm –,

    mit Handschuhen fasse ich diese Münze an,

    mit Ekel trete ich sie unter mich.


                                        3

    Still! –

    Von großen Dingen – ich sehe Großes! –

    soll man schweigen

    oder groß reden:

    rede groß, meine entzückte Weisheit!


    Ich sehe hinauf –

    dort rollen Lichtmeere:

    o Nacht, o Schweigen, o totenstiller Lärm!…

    Ich sehe ein Zeichen –,

    aus fernsten Fernen

    sinkt langsam funkelnd ein Sternbild gegen mich…


                                        4

    Höchstes Gestirn des Seins!

    Ewiger Bildwerke Tafel!

    Du kommst zu mir? –

    Was keiner erschaut hat,

    deine stumme Schönheit –

    wie? sie flieht vor meinen Blicken nicht? –


    Schild der Notwendigkeit!

    Ewiger Bildwerke Tafel!

    – aber du weißt es ja:

    was alle hassen,

    was allein ich liebe:

    – daß du ewig bist!

    daß du notwendig bist! –

    meine Liebe entzündet

    sich ewig nur an der Notwendigkeit.


    Schild der Notwendigkeit!

    Höchstes Gestirn des Seins!

    – das kein Wunsch erreicht,

    – das kein Nein befleckt,

    ewiges Ja des Seins,

    ewig bin ich dein Ja:

    denn ich liebe dich, o Ewigkeit! – –


                Von der Armut des Reichsten

Zehn Jahre dahin –,

kein Tropfen erreichte mich,

kein feuchter Wind, kein Tau der Liebe

– ein regenloses Land…

Nun bitte ich meine Weisheit,

nicht geizig zu werden in dieser Dürre:

ströme selber über, träufle selber Tau,

sei selber Regen der vergilbten Wildnis!


Einst hieß ich die Wolken

fortgehn von meinen Bergen, –

einst sprach ich »mehr Licht, ihr Dunklen!«

Heut locke ich sie, daß sie kommen:

macht Dunkel um mich mit euren Eutern!

– ich will euch melken,

ihr Kühe der Höhe!

Milchwarme Weisheit, süßen Tau der Liebe

ströme ich über das Land.


Fort, fort, ihr Wahrheiten,

die ihr düster blickt!

Nicht will ich auf meinen Bergen

herbe ungeduldige Wahrheiten sehn.

Vom Lächeln vergüldet

nahe mir heut die Wahrheit,

von der Sonne gesüßt, von der Liebe gebräunt, –

eine reife Wahrheit breche ich allein vom Baum.


Heut strecke ich die Hand aus

nach den Locken des Zufalls,

klug genug, den Zufall

einem Kinde gleich zu führen, zu überlisten.

Heut will ich gastfreundlich sein

gegen Unwillkommnes,

gegen das Schicksal selbst will ich nicht stachlicht sein,

– Zarathustra ist kein Igel.


Meine Seele,

unersättlich mit ihrer Zunge,

an alle guten und schlimmen Dinge hat sie schon geleckt,

in jede Tiefe tauchte sie hinab.

Aber immer gleich dem Korke,

immer schwimmt sie wieder obenauf,

sie gaukelt wie Öl über braune Meere:

dieser Seele halber heißt man mich den Glücklichen.


Wer sind mir Vater und Mutter?

Ist nicht mir Vater Prinz Überfluß

und Mutter das stille Lachen?

Erzeugte nicht dieser beiden Ehebund

mich Rätseltier,

mich Lichtunhold,

mich Verschwender aller Weisheit, Zarathustra?


Krank heute vor Zärtlichkeit,

ein Tauwind,

sitzt Zarathustra wartend, wartend auf seinen Bergen, –

im eignen Safte

süß geworden und gekocht,

unterhalb seines Gipfels,

unterhalb seines Eises,

müde und selig,

ein Schaffender an seinem, siebenten Tag.


– Still

Eine Wahrheit wandelt über mir

einer Wolke gleich, –

mit unsichtbaren Blitzen trifft sie mich.

Auf breiten langsamen Treppen

steigt ihr Glück zu mir:

komm, komm, geliebte Wahrheit!


– Still!

Meine Wahrheit ists! –

Aus zögernden Augen,


aus samtenen Schaudern

trifft mich ihr Blick,

lieblich, bös, ein Mädchenblick…

Sie erriet meines Glückes Grund,

sie erriet mich – ha! was sinnt sie aus? –

Purpurn lauert ein Drache

im Abgrunde ihres Mädchenblicks.


– Still! Meine Wahrheit redet! –


Wehe dir, Zarathustra!


Du siehst aus, wie einer,

der Gold verschluckt hat:

man wird dir noch den Bauch aufschlitzen!…


Zu reich bist du,

du Verderber vieler!

Zu viele machst du neidisch,

zu viele machst du arm…

Mir selber wirft dein Licht Schatten –,

es fröstelt mich: geh weg, du Reicher,

geh, Zarathustra, weg aus deiner Sonne!…


Du möchtest schenken, wegschenken deinen Überfluß,

aber du selber bist der Überflüssigste!

Sei klug, du Reicher!

Verschenke dich selber erst, o Zarathustra!

Zehn Jahre dahin –,

und kein Tropfen erreichte dich?

kein feuchter Wind? kein Tau der Liebe?

Aber wer sollte dich auch lieben,

du Überreicher?

Dein Glück macht rings trocken,

macht arm an Liebe

– ein regenloses Land…


Niemand dankt dir mehr.

Du aber dankst jedem,

der von dir nimmt:

daran erkenne ich dich,

du Überreicher,

du Ärmster aller Reichen!


Du opferst dich, dich quält dein Reichtum –,

du gibst dich ab,

du schonst dich nicht, du liebst dich nicht:

die große Qual zwingt dich allezeit,

die Qual übervoller Scheuern, übervollen Herzens –

aber niemand dankt dir mehr…


Du mußt ärmer werden,

weiser Unweiser!

willst du geliebt sein.

Man liebt nur die Leidenden,

man gibt Liebe nur dem Hungernden:

verschenke dich selbst erst, o Zarathustra!


– Ich bin deine Wahrheit…


Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Ruhm und Ewigkeit. Friedrich Nietzsche: Werke